Mordsonate
Gruppeninspektor in seiner Bereitschaft zur Gegenwehr nur ja nicht unterschätzen – jemand, der lustvoll die zweite Backe hinhält, war Erich Laber nämlich keineswegs.
Das drückend schwüle Wetter und die Regelschmerzen verstärkten die Wucht des Schocks, den die Nachricht ausgelöst hatte, die Frau Professor Stelzmann von dem Polizeibeamten erfahren musste, der sie in ihrem Arbeitsraum im Mozarteum aufgesucht hatte. Birgit Aberger, die talentierteste Schülerin, die sie je gehabt hatte, war gesternnach dem Klavierunterricht und dem anschließenden Besuch bei ihrer Freundin Anja Weger nicht nach Hause gekommen und heute noch immer abgängig. Unwillkürlich war die Frau dem Blick des Beamten gefolgt, der bei Erwähnung des Klavierunterrichts auf den prächtigen, schwarz glänzenden Flügel geschaut hatte, der in Professor Stelzmanns Dienstzimmer stand.
Veras Kreislauf war nahe daran gewesen, zu versagen – während sie ein Schwindel erfasste, erbleichte sie, und es brach ihr der Schweiß aus. Da ihr diese Symptome leider nur zu bekannt waren, legte sie sich kurzerhand vor dem verblüfften Beamten auf den Fußboden und versuchte tief durchzuatmen. Einmal war ihr Kreislauf in Spanien während eines Urlaubs zusammengebrochen. Sie war in der Toilette eines Lokals mit dem Kopf auf den Steinboden gekracht und eine Weile mit blutender Platzwunde an der Stirn ohnmächtig liegen geblieben.
Birgit, die sich bei aller Aufregung schon so sehr auf ihre Teilnahme an dem Musikwettbewerb in Vilnius gefreut hatte, wieso sollte Birgit gerade jetzt durchbrennen? Nein, aus Professor Stelzmanns Sicht war vollkommen auszuschließen, dass das Kind aus eigenem Antrieb abgehauen war – auch nicht aus plötzlicher Panik vor dem Wettbewerb, wie der sich weit zu ihr hinunterbeugende Polizist gemutmaßt hatte.
Vera hatte Birgit als zurückhaltendes und lebensfrohes Kind erlebt. Eines, das in eine Familie hineingeboren worden war, in der nicht so viel Aufhebens um ihr außerordentliches Talent gemacht wurde. Birgits Vater hatte auch nie verheimlicht, dass er nicht traurig gewesen wäre, wenn er sich die Kosten für die Förderung der Begabung seiner Tochter erspart hätte. Ein Talent zudem, das höchstwahrscheinlich nie entdeckt worden wäre, wenn nicht AnjaWeger ihre Zustimmung zu dem von ihrem Vater unbedingt gewünschten Klavierunterricht davon abhängig gemacht hätte, dass auch ihre beste Freundin Birgit Klavier lernte; wo doch die Musiklehrerin, bei der die beiden Mädchen Blockflötenunterricht genommen hatten, alle beide als sehr talentiert eingestuft hatte. Die beiden Einzelkinder standen einander näher als viele Geschwister. Was für eine Ironie, dass nun gerade Birgit Aberger ihre Freundin Anja längst überflügelt hatte! Dabei hatte Anjas gut verdienender Vater in Absprache mit der Familie Aberger das erste halbe Jahr auch die Kosten für Birgits Stunden übernommen, so lange, bis der private Lehrer feststellen würde, ob Birgit tatsächlich über ausreichend Talent verfügte.
Noch während Vera auf dem Boden lag, gingen ihr widerstreitende Gedanken durch den Kopf: Die große Sorge um das Kind wurde verdrängt von den Gedanken an den Wettbewerb, der Befürchtung, die Chancen auf eine hervorragende Platzierung in Vilnius einzubüßen, wenn Birgit zu spät wieder auftauchen sollte. Selbst wenn sie keinen Spitzenplatz schaffen würde, wäre schon eine Teilnahme für die hochbegabte Schülerin und ihre Professorin von enormer Bedeutung. Nein, sie musste einfach bald wieder auftauchen. Denn dieser Wettbewerb wurde erstmals für Hochbegabte bis zum Alter von zehn Jahren ausgerichtet – Birgit konnte also nur dieses Jahr mitmachen. Der Wettbewerb war ein Spektakel, den Erfordernissen heutiger Massenmedien angepasst, dessen war Vera sich natürlich bewusst. Man wollte eine europäische Wunderkindershow, einerseits, andererseits aber auch eine hochkarätige Fachjury. Es beteiligten sich alle wichtigen Fernsehstationen innerhalb der EU. Nicht nur die Preisgelder waren üppig dotiert, auch die Teilnahme wurde großzügig honoriert, und wer es dort schaffte, konnte mit etwas Glückausgesorgt haben, was die Karriere betraf. Überdies sah das Konzept vor, dass nach jedem Konzert die betreffende Lehrperson für ein kurzes Gespräch mit den Moderatoren auf die Bühne gebeten werden sollte. Die beteiligten Sender erwarteten sich mit der Live-Übertragung so viel Publikum, wie kein anderes Programm mit ernster Musik es jemals erreichen
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