Mordsonate
für allemal aus dem Kopf schlagen, verstehst du.«
Birgit schwieg. Und auch der Mann sagte nichts mehr. Nur der laute Atem des Mädchens und sein gelegentliches Aufschluchzen waren zu hören, während das Kind auf dem Klavierhocker, die Hände ineinander verkrallt auf dem Schoß, immer mehr in sich zusammensackte.
Draußen fuhr irgendwo ein Traktor, es waren Menschen in der Nähe. Der Mann hatte sie nicht ans Ende der Welt verschleppt. Ich werde gefunden werden, sehr, sehr bald schon.
Seit Birgit die Spiegelung entdeckt hatte und ihr Entführer beim Klavierspiel in diese hohe kreischende Stimme verfallen war und sie mit Bub angeredet hatte, hoffte sie noch inständiger auf ihre Befreiung. Diese verwirrenden Unerklärlichkeiten machten alle ihre hilflosen Versuche zunichte, abschätzen zu wollen, was der Mann in der Kutte mit ihr vorhaben könnte. Sie wollte auch gar nicht mehr darüber nachdenken, wie er es denn nur anstellen würde, ihre Finger weltberühmt zu machen. Sie klammerte sich allein an die Vorstellung, dass längst fieberhaft nach ihr gesucht wurde. Und wie nahe ihre Retter schon sein mussten. Dass es jetzt wirklich nur darum ging auszuharren.
Diese Gedanken beruhigten das Mädchen ein wenig. Und gerade als diese Hoffnung größer wurde, hörte sie in ihrem Rücken die halblaute Stimme ihres Entführers in wehleidigem Jammerton: »Und gerade so ein Wunderkind …so ein … armseliges Wunderkind demütigt andere Klavierschüler! Erniedrigt sie, weil sie doch … seinetwegen aufgeben müssen … ausgeschlossen werden … alle Liebe verlieren, alle Zuneigung …«
»Aber es wird doch meinetwegen niemand ausge–«
»Natürlich ist es so! So und nicht anders!« fuhr ihr der Mann so scharf über den Mund, dass Birgit sofort verstummte und aufschluchzte.
»Ja, da kannst du ruhig heulen, du Heulsuse du! So etwas zu behaupten, wo ich das doch viel besser weiß!«
Birgit wischte sich schnell mit dem Handrücken die Tränen aus dem Gesicht und nützte die Gelegenheit, sich auch gleich noch einmal zu kratzen. Sie hatte damit gerechnet, dass ihr der Mann das sofort wieder verbieten würde, doch er sagte nichts. Vielleicht hatte er kurz nicht zu ihr hingeschaut. Sie ärgerte sich, sich nicht noch länger gekratzt zu haben.
Sie griff wieder nach den Noten, um einen unauffälligen Blick auf das spiegelnde Holz werfen zu können, worauf der Mann sagte, dass es mit dem Klavierspiel vorbei sei. Dass sie sich das ein für allemal aus dem Kopf schlagen solle. Dem Mädchen gelang es, eine unkontrolliert wirkende Bewegung mit dem Kopf vorzutäuschen, sodass es ihr gelang, im Spiegelbild neben dem Hackstock etwas von dem Stahlrohrbett zu erkennen, in dem sie gefesselt geschlafen haben musste. Von der Schlangengrube konnte sie aus ihrem Blickwinkel nichts erkennen, und weitere Verrenkungen wagte sie nicht. Sie hörte ohnehin den Mann bereits aufstehen und auf sie zugehen – gleich darauf zog er ihr die Augenbinde wieder über den Kopf. Die Dunkelheit schien ihr nun aber leichter zu ertragen, nachdem sie sich zumindest eine ungefähre Vorstellung von dem Raum verschafft hatte, in dem sie festgehalten wurde.
Er packte sie wieder am rechten Oberarm und führte sie zum Bett zurück, wo er ihr zuerst erlaubte, sich zu setzen. Am Geräusch erkannte Birgit, dass er sich den Stuhl näher zum Bett zog. Danach forderte er sie auf, wieder ein paar Schritte zu gehen. Schweigend ging Birgit einige Minuten vorsichtig auf und ab, bis ihr Entführer aufstand und sie wieder zum Bett bugsierte – damit sie ihm nicht noch in die Grube falle, wie er sie leise wissen ließ.
Als sie saß, seufzte der Mann mehrmals auf, als würde er sich um irgendetwas Sorgen machen. Dann fragte er sie: »Hast du Durst, willst du was trinken?«
»Ein bisschen vielleicht … ja, bitte …«
»Rühr dich nicht vom Fleck, ja!«
»Nein.«
Sie hörte, wie er aufstand, ein paar Schritte ging, mit irgendetwas hantierte, ein Getränk eingoss und darin umrührte.
Als sie das Glas mit Orangensaft ausgetrunken und er sie anschließend aufs Klo und wieder zum Bett zurückgeführt hatte, atmete er wieder hörbar aus, als würde er überlegen, was als nächstes zu tun war.
»Hast du Hunger? Willst du eine Pizza?«
»Ja gerne! Eine Margherita.« Das war Birgits Lieblingspizza – die einfachste und billigste, die ihr inzwischen auch am besten schmeckte.
»Papa hat … weil wir doch sparen müssen.« Als das Mädchen eifrig und in zutraulichem Ton zu erzählen
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