Mordspech (German Edition)
Nasenwurzel. Nur schemenhaft und wenn er schielte, aber eindeutig. Sie hatten ihn. Ein einziger Schuss würde ihn tödlich treffen, genau zwischen die Augen. Aber wenn sie ihn umbringen wollten, warum taten sie es dann nicht?
Meyer schöpfte wieder Hoffnung. Die wollen was von mir, dachte er. Das ist meine Chance. Jetzt hieß es Zeit gewinnen. Mühsam suchte er aus den Augenwinkeln die Umgebung ab. Er konnte niemanden sehen. Wo war der Kerl mit der Waffe? Er hatte so nah geklungen, keine zehn Meter entfernt. Aber er konnte ihn nirgendwo ausmachen.
Er muss irgendwo im Schatten der Bäume stehen, dachte Meyer angespannt. Direkt gegenüber. Schwarz gekleidet, sodass er in der Dunkelheit fast unsichtbar ist.
In der Nacht verschwimmen die Konturen. Sie ist die perfekte Tarnung für jemanden, der nicht gesehen werden will. Deshalb haben wir eine naturgegebene Angst vor der Dunkelheit. Noch so ein Urinstinkt, den wir nicht loswerden: die Furcht vor der Finsternis. Weil sich im Dunkeln das Böse verbirgt …
Als der rote Zielpunkt des Lasers an seinem Körper herunterwanderte und auf seinem Oberschenkel stehen blieb, trieb es Meyer den Angstschweiß aus allen Poren.
Jetzt wusste er, was ihm blühte. Nicht der schnelle Tod durch einen Kopfschuss. Das hier hatte etwas von blutiger Rache. Die wollen mich langsam sterben sehen, dachte er verzweifelt. Die schießen mir erst in die Beine, dann in die Arme und sonst wohin, bis ich langsam verblute. Das ganze qualvolle Programm für einen Verräter.
Und plötzlich war ihm völlig klar, wer ihn hier gestellt hatte. Es konnte nur den einen geben. Perfekt ausgebildet. Ein Phantom seit fast zwanzig Jahren. Lautlos und unsichtbar. Immer tödlich. Niemand wusste, wer dahintersteckte.
Aber es hatte einen Namen: Tante Tilly!
25 DER KERL ist nicht erreichbar. Seit Stunden schon nicht. Gefühlte tausendmal habe ich versucht, ihn anzurufen, auf dem Handy, per Festnetz. Aber es ging immer nur der Anrufbeantworter beziehungsweise die blöde Mailbox ran. Ich stand vor seiner Wohnung, habe Sturm geklingelt. Ohne Erfolg.
Am Ende habe ich kurzerhand seine Tür eingetreten, bin praktisch bei ihm eingebrochen, um mit zunehmender Verzweiflung nach einer Nachricht zu suchen, nach irgendeinem Anhaltspunkt, wo er sein könnte.
Vergebens. Nichts. Siggi ist wie vom Erdboden verschluckt.
Vielleicht ist er Monika und den Kindern an die Ostsee gefolgt? Zuzutrauen wär’s ihm. Das wäre für ihn die Gelegenheit, wieder mal gepflegt mit Moni anzubändeln.
Ich wähle ihre Handynummer, aber auch da geht nur die Mailbox ran. Was an der Netzabdeckung liegt. Wenn wir dort telefonieren wollen, müssen wir immer in das Baumhaus klettern, das ich den Zwillingen in die Krone einer Krüppelkiefer gebaut habe. Da hat man dann ganz schwachen Empfang. Bislang hat mich das nie gestört. Wozu habe ich ein Sommerhaus? Um mich zu erholen. Um unerreichbar zu sein. Als sie mir einen Festnetzanschluss legen wollten, habe ich dankend verzichtet. Ich will im Urlaub meine Ruhe. Und die gibt es dort oben. Herrlich. Wenn ich einmal pensioniert bin, also in knapp sechzehn Jahren, werde ich mich genau dorthin zurückziehen und mit einer guten Flasche Whisky und einer Zigarre meinen Lebensabend im Sonnenuntergang über dem Bodden genießen. Ohne Telefon und Internet. Nur mit den Möwen auf dem Wasser und mit Monika. Vielleicht kommen uns mal die Kinder besuchen, dann wird gefeiert. Ansonsten genießen wir die Stille.
Ich spreche Monika trotzdem auf die Mailbox. Vielleicht fährt sie ja mal nach Barth zum Einkaufen. Da haben sie im letzten Jahr einen Telefonmast am Hafen aufgestellt, und wie ich Monika kenne, wird sie dort sofort ihr Handy abhören. Das macht sie immer. Im Gegensatz zu mir hält sie den Mobilfunk für eine unverzichtbare Erfindung. Dabei ist es früher ja auch ohne gegangen.
Auf Siggis Schreibtisch im kleinen Arbeitszimmer unter dem Dach liegt sein Terminkalender. Interessiert blättere ich ihn durch. Wenn er sich wirklich mit Kawelka im »Four Roses« treffen wollte, vielleicht hat er’s notiert? Kawelka hatte sich den Termin ja auch aufgeschrieben. Und in der Tat steht’s drin: »11.00 Uhr Treffen mit K . im FR «, na also. Was wollte er von Kawelka? Oder besser, was wollte der Reporter von Siggi? Und was bedeutet der Vermerk »St. Croix 222«? Siggi hat ihn in Klammern hinter den Termin mit Kawelka notiert. Mit einem anderen Stift. »St. Croix 222« – Was soll das sein? Worum geht’s
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