Mordspech (German Edition)
Friedhofsruhe.
»Los, zieh dich an!« Hünerbein beginnt Butterbrote zu schmieren. »Ich mach uns rasch ein paar Stullen. Wir müssen nach Hohen Neuendorf.«
»Wohin?« Ich verstehe kein Wort.
»Ho-hen – Neu-en-dorf«, wiederholt Hünerbein langsam und akzentuiert, damit es auch jeder Trottel versteht.
Nur ich nicht. »Wo soll das denn sein?«
»Hinter Frohnau. Da wartet eine Leiche auf uns.«
Gott, denke ich. Hört das denn nie auf? »Wieder unser Scharfschütze?«
»Nein, und der Mann mit der Drahtschlinge war es auch nicht. Ein ganz neuer Fall.«
Das ist das Schöne an dieser Stadt, denke ich. Da kann das Bundeskriminalamt noch so viele Fälle an sich reißen, arbeitslos werden wir deswegen nicht.
»Vermutlich eine S-Bahn-Schlägerei«, erklärt Hünerbein, »Genaues weiß man noch nicht.«
»Ist das überhaupt noch in Berlin?«
»Frohnau schon. Hohen Neuendorf nicht mehr. Deshalb gab’s auch ein bisschen Kuddelmuddel bei den Kompetenzen. Aber die Brandenburger haben argumentiert, dass die Tat noch in Berlin im S-Bahn-Zug stattgefunden haben muss, weil das Opfer schon tot in Hohen Neuendorf ankam – und uns so den Fall an die Backe geklebt.« Er sieht mich vorwurfsvoll an. »Hab ich nicht gesagt, du sollst dich anziehen?«
»Immer mit der Ruhe«, erwidere ich genervt und suche meine Sachen. »Willste nicht erst mal einen Kaffee machen?«
»Den hab ich im Auto«, antwortet Hünerbein. »Frisch aufgebrüht in der Thermoskanne. Und nun mach hin, wir müssen los!«
Fünfzehn Minuten später sitzen wir im Auto. Kurz nach halb sieben ist noch nichts los. In anderen deutschen Städten tobt um diese Zeit längst die Rushhour, der morgendliche Berufsverkehr, aber in Berlin sind die Straßen so gut wie leer.
Wir stehen hier später auf, weil unsere Nächte länger sind, habe ich mal einem Münchner Kaufmann erklärt, den ich vor ein paar Jahren nach einer nächtlichen Kneipentour am frühen Morgen verwirrt auf der Apostel-Paulus-Straße aufgelesen habe. Der Ärmste wollte sich doch tatsächlich mit einem Geschäftspartner im »Café Forum« treffen. Zum Arbeitsfrühstück, morgens um halb acht! Ich hab mich halb totgelacht. Denn natürlich war das Forum noch geschlossen. Frühstück gibt’s da erst ab zehn, doch dafür bis spät in die Nacht. Vermutlich war der Geschäftstermin erst abends um neunzehn Uhr dreißig terminiert, aber da hat so ein braver Münchner natürlich längst Feierabend. Uns trennen Welten von den Süddeutschen, das ist mir damals einmal mehr klar geworden. Komisch ist nur, dass es trotzdem so viele Schwaben in Berlin aushalten …
Gerade im alten Ostberlin siedeln sie sich gerne an. In diesen alten Stadtvierteln im Prenzlauer Berg und im Friedrichshain, die gerade so in sind bei der Jugend aus den alten Bundesländern.
Als Berliner weiß ich allerdings, wie die Geschichte weitergeht: In ein paar Jahren werden diese jungen Leute Karriere machen und Kinder bekommen, und dann stören die hippen Kneipen plötzlich, wegen der man einst hierhergekommen ist. Dann wird lautstark die Sperrstunde verlangt, wie man es aus Stuttgart kennt. Spätestens um zweiundzwanzig Uhr dreißig muss dann draußen Ruhe herrschen, sonst kommt die Polizei. Und in dem einst so pulsierenden Viertel werden die Bürgersteige hochgeklappt.
Die Karawane ist da längst weitergezogen und hat einen anderen Stadtteil zum Szeneviertel erklärt, was dann wieder viele junge Leute anzieht, die aus der Langeweile ihrer Provinznester geflohen sind, und alles geht von vorne los. In den sechziger Jahren musste man in Charlottenburg wohnen, wenn man als junger Mensch dazugehören wollte, zur APO etwa, der Studentenbewegung und den Hippies. In den 1970ern war es Kreuzberg, wo – »Keine Macht für Niemand!« – die Berliner Punkszene entstand.
Schöneberg wurde in den Achtzigern hip durch Hop und Pop und Dr. Mottes House Music, und jetzt sind halt die Ostbezirke dran, das nennt man Gentrifizierung. Irgendwann in nicht allzu ferner Zukunft wird sogar Neukölln das absolute Must Go in Berlin sein, der Wedding und die Gropiusstadt …
»Hey!« Hünerbein rüttelt mich. »Wach auf! Wir sind da.«
»Was?« Gähnend sehe ich mich um. »Schon?«
»Ja, die Straßen waren schön leer«, antwortet er, aber das Thema hatte ich ja bereits.
Vor dem S-Bahnhof Hohen Neuendorf stehen mehrere Polizeiwagen, die Bullis von KT und Rechtsmedizin sowie ein paar ratlose Pendler, die jetzt nicht weiterwissen, da der Bahnhof für den
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