Mordspuren - Neue spektakulaere Kriminalfaelle - erzaehlt vom bekanntesten Kriminalbiologen der Welt
den Textilien sichtbar gewesen wären.
Abb. 15: Diese Waffe lag neben den Leichen der Gefährten Packers. Sie war aber erst 1950 von einem Archäologiestudenten am Leichenfundort ausgegraben worden. (Foto: David Bailey)
»Nun wurde es spannend«, berichtete Bailey. »Zwei Schüsse beim einzigen Mann, der überhaupt erschossen wurde… und im Revolver in unserer Sammlung fehlten ebenfalls genau zwei von fünf Projektilen.«
Und dann stolperte Bailey über noch etwas: eine Aussage Packers, die er vor Gericht immer und immer wiederholt hatte. Packer hatte ausgesagt, dass der wahre Mörder nicht er, sondern Shannon Bell gewesen sei. Er habe ihn zwar erschossen – aber nur, weil Bell vorhatte, den ganzen Trupp mit seinem Beil zu erschlagen. Und damit war Bell ja bereits weit gekommen. Also rangen Packer und Bell um ihr Leben – die Schüsse fielen – und Packer war der einzige Überlebende.
Die Sache ließ Bailey keine Ruhe mehr. Im Oktober 2000 war er bei einem befreundeten Heimatkundeverein zu Gast, bei dem er Fotos von der Untersuchung der Packer’schen Leichen durchsah. Eine davon hatte ein Loch in der Hüfte – das musste Shannon Bell oder »Skelett Nr. A« sein. Der Verein besaß aber nicht nur die Fotos, sondern auch alle Spuren, die damals an den Skeletten gefunden worden waren: Wolle, Fasern, Knöpfe und Erde.
Obwohl es die Suche nach der Nadel im Heuhaufen war, fanden die Forscher im Februar 2001 tatsächlich ein nur fünfzig Mikrometer (ein millionstel Meter) großes Stückchen Blei unter dem Elektronenmikroskop. Die spektrografische Untersuchung ergab, dass es sich um Blei handelte, wie es für Projektile der damaligen Zeit typisch war. Und nicht nur das. Eine kleine Probe aus einem der drei in der Waffe verbliebenen Projektile wies haargenau die gleiche Zusammensetzung auf. Die Kugel, die Bells Körper getroffen hatte, war also wirklich aus dem Revolver abgegeben worden, den Bailey im Archiv gefunden hatte.
»Meiner Meinung nach bestätigt dieser Befund die Aussage Packers«, erklärte Bailey. »Man kann den Angeklagten nun, nach über hundert Jahren, zwar nicht mehr persönlich verteidigen. Aber für die Wahrheit ist es eigentlich nie zu spät.«
Nun kann man selbstverständlich einwenden, dass Packer ebenso gut zuerst Bell erschossen und dann alle anderen erschlagen, beraubt und aufgegessen haben kann. Außerdem sprachen die ursprünglichen Befunde ja auch davon, dass alle Opfer erschossen wurden, nicht nur Shannon Bell. Doch Bailey glaubt trotzdem, dass seine Untersuchung Packers Aussagen bestätigt und ihn damit entlastet.
Abb. 16: Dieses fünfzig Mikrometer große Stückchen Blei bestätigte Packers Aussage, er habe Bell im Kampf getötet. (Foto: David Bailey)
Eine etwas andere Meinung vertritt der Knochenkundler James Starrs. Er hatte im Jahr 1983 zusammen mit dreizehn Kollegen die Knochen der Opfer aufgespürt und enterdigt. »Packer war so schuldig, wie man überhaupt nur sein kann«, erklärte er nach seiner Untersuchung. »Nicht Shannon Bell war der Angreifer, sondern Packer – und zwar in allen Fällen. So einfach ist das.«
Begründung: Alle Skelette wiesen Abwehrverletzungen auf, in diesem Fall Kerben in den Armknochen – ein klarer Hinweis darauf, dass sich die Männer mit bloßen Händen gegen den Angriff eines Menschen gewehrt hatten, der sie mit einem Beil angegriffen und getötet hatte. Diese Tatsache widerlegt aber Packers Aussage, dass einige der Männer an Schwäche gestorben waren und er sie erst nach diesem natürlichen Tod verspeist hätte.
Darüber, dass Packer ein Kannibale war, sind sich alle einig, und auch der damalige Angeklagte hatte es zugegeben. In der Erinnerung ist den Menschen trotzdem eher ein kauziger Volksheld geblieben, und so ist es mittlerweile vielleicht auch egal, wer im eisigen Winter 1873/74 wirklich wen umgebracht hatte.
Mehrere Mensas der Universität Colorado tragen derweil unbekümmert Packers Namen. Ursprünglich handelte es sich bei dieser Benennung um einen Studentenscherz in den 1960er-Jahren. Da Packer seit 1981 aber auch formell kein Mörder, sondern nur noch ein Kannibale ist, hat das Studentenwerk der Uni den Witz aufgegriffen und die Speiseräume ganz offiziell auf ihn getauft. Wenn Sie also einmal in Boulder im Staat Colorado sind, machen Sie doch einen Abstecher in die dortige Uni-Mensa – entweder zum Alferd E. Packer Memorial Grill (kurz »Alferd-Packer-Grill« oder »Packer Snacker«) oder, im Namen von Vegetariern wie
Weitere Kostenlose Bücher