Mordsschock (German Edition)
erschrocken um, ob uns jemand hörte. Aber außer der flötenden Amsel in der kranken Birke und den schnatternden Enten lauschte niemand meinem Gekeife.
„Kein Wunder, dass du nie mit mir über die Grundstücksverteilung sprichst. Du hängst ja bis zum Hals in der Scheiße mit drin!“, kreischte ich schrill.
Die Amsel hatte nun die Nase voll von meinem hysterischen Gezeter und flog davon.
Ich zertrampelte Kens Grundrisszeichnung. Es kam mir vor, als ob ich gerade meine rosige Zukunft zerstampfen würde. Ich war zu aufgebracht, um mich von ihm beschwichtigen zu lassen. Sätze wie „das tun alle überall“ und „ist überhaupt nichts dabei“ und „wozu sitze ich denn in der Bodenordnungskommission?“ und „wenn man sich freiwillig für die Stadt aufopfert, muss man auch kleine Vorteile haben“ rauschten an mir vorbei.
Allein sein und nachdenken! Ich lief und lief. Den Fluss entlang. Bis ich keine Luft mehr bekam. Ausgepumpt sank ich auf eine Bank.
Eine vollschlanke Weide ließ ihre Zweige weit über das Wasser hängen, aus dem ab und zu ein nach Insekten schnappender Fisch hochschnellte. Ein quakendes Entenpärchen dümpelte friedlich auf den sanften Wellen. Einträchtig zogen sie ihre Kreise – nebeneinander. Nichts auf der Welt trennte sie. Jetzt watschelten sie an Land, verschwanden im Schilfgürtel und steckten die Köpfe zum Schläfchen in den Nacken. Gleichzeitig.
Ein Erpel, der bereits auf diesem Fleckchen geruht hatte, gönnte ihnen diese Erholung nicht. Mit aufgesperrtem Schnabel ging er auf das Pärchen los.
Laut quakend und flügelschlagend vertrieben sie ihn. Gemeinsam waren sie stärker.
Mitleidig betrachtete ich den einsamen Erpel, der traurig wegwatschelte. Vertrieben von diesen starken Zwei.
Egal, wie ich mich entscheiden würde, ein Stückchen verlor ich. Aber die Waage hing schief. Auf der einen Seite wog Selbstachtung, die andere Seite aber neigte sich randgefüllt zum Boden. Langsam wurde mir klar, dass Selbstachtung allein nicht glücklich machte. Ich dachte an alle meine beruflichen Misserfolge der letzten Zeit, meine Einsamkeit, meine Angst und meine kleine Schwester, die mich just heute per SMS an mein Ehrenwort erinnert hatte.
Endlich war das Glück zum Greifen nahe. Sollte ich es zurückstoßen? Nur, um morgens mit reinem Gewissen in den Spiegel schauen zu können? Der Preis, den ich dafür bezahlte, war zu hoch! Ich müsste auf so vieles verzichten. Endlos würde ich wie eine Beknackte hinter irgendwelchen Storys herjagen, bis mich eines Tages tatsächlich so ein Verrückter in die Finger bekam und mein Lebenslicht auspustete. Wenn ich Glück hatte, erntete ich als Dank für mein edles Lebenswerk einen einspaltigen Nachruf auf Seite zwei.
Nein! Schwungvoll schleuderte ich einen abgeknickten Ast ins Wasser. Platsch.
Der Single-Erpel, der einsam seine Kreise zog, flatterte erschrocken hoch.
Ich wollte dort mit Ken wohnen und meine kleine Schwester zu mir holen!
Noch am gleichen Abend besuchte ich Luise Müller im Altersheim, um ihr von meinem Glück zu erzählen. Schwärmte ich anderen Leuten genügend vor, könnte ich vielleicht die unangenehmen Gedanken verdrängen.
Luise Müller schaukelte schweigend in ihrem Stuhl hin und her. Sie hörte sich meine Beziehungsgeschichte an und gratulierte. Sie äußerte wenig, nur, dass alles so langweilig wäre.
Eine Woche später erhielten wir in der Redaktion die Nachricht von ihrem Tod.
Auch bei Lila stieß ich mit meiner Neuigkeit auf verhaltene Begeisterung. „Woher hat der denn die Kohle für das Sahnegrundstück, wenn er bloß Verwaltungsangestellter ist?“, erkundigte sie sich nach meiner begeisterten Schilderung unseres zukünftigen Traumhauses.
„Ken hat sich aus ärmlichen Verhältnissen hochgearbeitet.“ Ich kramte die Geschichte von der Barmbeker Arbeiterfamilie aus der Schublade.
„Sach ma, liebst du ihn?“
„Natürlich!“ Zur Bekräftigung verdoppelte ich die Lautstärke. Ich hasste Lila, wenn sie aus Verarschung extra in breitem Hamburger Slang sprach, um meine Begeisterung für eine Sache zu dämpfen.
„Ich bin nicht taub! Weiß er, dass Vic bei euch einzieht?“ Lila besaß die unangenehme Gabe, mir jegliche Freude zu verderben, indem sie ihren spitzen Fingernagel direkt in die Wunde bohrte.
„Nicht direkt“, druckste ich herum, „aber das ist kein Problem!“
Ken wusste zwar von Vics Existenz, von unseren gemeinsamen Zukunftsplänen hatte ich bisher aber nichts erzählt. Wenn wir erst
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