Mordsschock (German Edition)
wünschte, als sie tatsächlich zu mir holen zu können. Ich beschloss, ein Sparbuch für sie anzulegen – war selbst gerührt von dem Gedanken.
„Tschüss Kleine, schlaf gut! Du kommst mich bald besuchen.“ Dann fiel mir etwas ein. „Frage Sophie, ob sie einen Teil meiner Erbschaft haben will! Er hat vier Beine und faucht!“
Kapitel 5
Ich lief über den kopfsteingepflasterten Marktplatz zur Fußgängerzone. Wenn man ein Herz für so was hatte, wirkten die alten Häuser und das Rathaus drum herum idyllisch. Eng schmiegten sie sich aneinander. Manche sahen ein wenig schief aus, als würden sie jeden Moment absacken. Aber so hielten sie dem Lauf der Geschichte seit vielen Jahrzehnten stand und überlebten zig menschliche Generationen.
Die eingravierte Jahreszahl 1891 über einer Haustür stach mir ins Auge. Die meisten Gebäude der Stadt stammten aus dieser Zeit. In den letzten Jahren waren offensichtlich viele der roten Backsteinfassaden erneuert worden. Man hatte sich mit Accessoires wie weißen Stuckornamenten und Sprossenfenstern Mühe gegeben, die ursprünglichen Gesichter der Häuser zu erhalten. Dazwischen wurden sie gestützt von neueren Gebäuden aus der Nachkriegszeit, die durch ihre Kastenformen neben den schlanken alten Häusern plump und derb wirkten. Sie beherbergten rund um den Marktplatz einen Blumenladen, einen Bäcker, eine Boutique, einen Bastelladen und ein Schuhgeschäft. An der Ecke zur Fußgängerzone lag ein weißes Café mit geschwungenen hohen Bogenfenstern in leuchtendem Türkis und mit einer gläsernen Fassade. Marktcafé leuchteten die Neonbuchstaben über dem Eingang. Ein bisschen Stilbruch – genau wie der Supermarkt gegenüber und die weißen Drahtbänke unter den Platanen.
Am Brunnen trafen sich Hausfrauen und Rentner zum Klönen. Aus gusseisernen Fischköpfen plätscherte das Wasser in das gemauerte achteckige Rondell. In der Mitte des Beckens stand eine Säule, auf der ein schmiedeeisernes Mädchen mit Zöpfen thronte. Im Arm trug sie eine Ente. Es sah so aus, als bewache sie das dahinterstehende weiße Rathaus.
Die weißen Säulen am Portal unter dem goldfarbenen Wort ‚Rathaus‘ erinnerten an eine Südstaatenvilla. Auch der zierliche, von Säulen eingerahmte Balkon und die Stuckformen der Jahrhundertwende versetzten mich in Erwartung, gleich Scarlett O’Hara heraustreten zu sehen. Nur die kleine Rathausuhr und das schwarze Dach passten nicht recht dazu.
Plötzlich wurde die Idylle gestört. Kreischend wichen die Passanten, die eben ein gemütliches Schwätzchen neben dem Brunnen hielten, zurück. Ein struppiger, schwarzer Mischlingshund war in das Wasser gesprungen, sodass es nach allen Seiten spritzte. Genießerisch ließ er sich nun mit hechelnder Zunge von den gusseisernen Fischköpfen besprengen. Nach dem Bad schüttelte er sein nasses Fell ausgiebig. Im hohen Bogen flogen die Tropfen dabei nach links und rechts.
Sein Herrchen nahm ihm diese Rücksichtslosigkeit nicht übel. „Bobby, du Drecksack!“, sagte er und tätschelte ihn zärtlich. Er trug einen schwarzen Schlapphut, von dem eine lange grüne Perlenkette herunterbaumelte. Er verdeckte das Gesicht des Mannes beinahe, nur der gezwirbelte Schnurrbart guckte heraus. Im Zusammenspiel mit der auffallenden Kopfbedeckung wirkten das blaue T-Shirt und die schwarze Hose bieder.
Der Mann parkte sein klappriges Fahrrad neben dem Brunnen. Auf dem Gepäckträger klemmten zusammengerollte Wolldecken und Handtücher, die Lenkstange bewachte ein großer brauner Teddy. Der Mann nahm einen tiefen Schluck aus einer Bierdose und stellte sie dann auf den Brunnenrand. „Weißt du, Bobby“, erklärte er seinem nassen Hund, „irgendwann sind wir reich, dann kaufen wir uns ’ne Villa.“
Der Hund schüttelte sich wieder.
Sein Herrchen kickte die leere Bierdose in den Brunnen. „Bobby, pass schön auf das Fahrrad auf! Wenn einer klaut, beiß!“, ermahnte er den Hund und verschwand in den Supermarkt.
Ich fühlte mich mit dem Gammler verbunden – ich war in dieser bürgerlichen Wohlanständigkeit genauso ein Fremdkörper wie er. Jederzeit könnte ich mein Hab und Gut auf dem Gepäckträger eines Fahrrades verstauen – wenn ich denn eines besitzen würde. Das hatte er mir voraus. Leider gab es noch einen entscheidenden Unterschied zwischen uns: Der Gammler kannte seine Gesetze, wusste, zwischen Träumen und Realität zu unterscheiden. Er war genügsam, ich nicht. Er stand zu seinem Leben, ich lief meinem
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