Mordsschock (German Edition)
eindrang. Drinnen könnte er mich mühelos beseitigen. Keine Schreie, keine Spuren. Es würde ewig dauern, bis jemand meine Leiche fand. Bei der Kälte würden sich meine Überreste gut konserviert, lange halten. Ein schlechter Trost. ‚Leiche‘ klang so makaber. Wie ein Witz. Dabei zitterte ich überall, so lebendig war ich!
Ich ließ die Arme kreisen, schüttelte die Beine aus, um wieder klar denken zu können. Ich legte ein Ohr gegen die Tür und lauschte. Stille. Das einzige Geräusch war das Pochen meines Herzens.
Ich bemühte mich, den Stein vor der Tür weg zu zerren. Durch die Anstrengung wurde mir wenigstens wärmer. Vorsichtig schob ich den Riegel der Tür zurück. Aber sie bewegte sich keinen Zentimeter, so sehr ich mich auch dagegen stemmte. Der Unbekannte hatte ganze Arbeit geleistet und sie von außen gründlich verrammelt. Ich war gefangen!
Glücklicherweise steckte das Handy in meiner Hosentasche. Ich wünschte mir einen vollen Akku und ein Netz. Gott sei Dank, es leuchtete im Dunklen auf! Ich studierte die Liste mit den einprogrammierten Telefonnummern und drückte Jelzicks Namen. Ich brauchte einen kräftigen Mann.
„Jaaa“, meldete sich Jelzick verschlafen.
„Hier ist Nina! Schnell, du musst mir helfen! Ich stecke in einem komischen Reetdachhaus fest. Jemand hat mich eingesperrt!“
„He? Bist du noch ganz bei Trost, ich ...“
„Das ist kein Witz! Es geht um Leben oder Tod. Der Typ kann jeden Moment zurückkommen und mich abmurksen. Beeil dich!“
„Wo bist du?“
Ich beschrieb Jelzick die Lage meines Gefängnisses, so gut ich mich an die geografischen Einzelheiten erinnerte, die ich bei meiner Flucht gesehen hatte.
„Landstraße Herbeck, gegenüber vom Herrenhaus, Hügel, Reetdach und Findlinge. Hm … Ist es sehr kalt?“
„Und wie! Ich klappere wie ein liebestoller Storch. Kriege bestimmt eine Lungenentzündung.“
„Aye! Kein Wunder, du sitzt im Herbecker Eiskeller!“
Der Eiskeller, den Herbie erwähnt hatte! Ich steckte in einem großen Kühlschrank! Auf der Rosenhagener Homepage stand, dass hier früher in aus dem Teich herausgebrochenen Eisquadern Fleisch, Milch und Käse gelagert wurden.
„Soll ich die Polizei anrufen?“
„Auf keinen Fall! Ich habe eine Dummheit gemacht und möchte nicht, dass die an die große Glocke gehängt wird. Bring Voller oder einen kräftigen Kumpel mit! Ihr müsst Steine vor dem Eingang wegräumen.“
Nach dem Telefonat wurde ich zuversichtlicher. Ich machte Kniebeugen, um die Kälte abzuschütteln. Die Gelenke knackten wie bei einer neunzigjährigen Oma. Meine Sorge, der gefährliche Unbekannte könnte vor Jelzick zurückkehren, verdrängte ich krampfhaft.
Ich dachte bereits an die Zeit nach meiner Freilassung. Natürlich müsste ich zur Polizei gehen. Immerhin hatte jemand einen Mordanschlag auf mich verübt. Aber was sollte ich denen mitteilen? Ich konnte den Angreifer nicht beschreiben. Fingerabdrücke gab es nicht. Bedauernd befühlte ich meinen zerrissenen Pullover. Selbst wenn man an der Grabstelle das Stückchen Stoff finden würde, was der Unbekannte mir ausgerissen hatte, existierten sicher keine Spuren. Er trug ja Handschuhe.
Ich sah mich im Geiste mit Kommissar Herder sprechen. Vermutlich würde er die Geschichte nicht mal glauben und alles für überspannte Fantasien halten. Ob er bei mir wohl auch Selbstmord diagnostiziert hätte, wenn er auf meine Leiche gestoßen wäre?
Energisch schlenkerte ich mit dem Kopf hin und her, um diese bösen Gedanken zu vertreiben. Ich musste selbst Augen und Ohren aufhalten. Erst wenn ich einen Verdächtigen fand, würde ich zur Polizei gehen.
Ich zog meinen Pullover aus und setzte mich darauf. Erschöpft kauerte ich mich zusammen, ließ den Kopf zwischen die Knie sinken, als könnte ich auf diese Weise per Vogel-Strauß-Politik die unbarmherzige Außenwelt verdrängen. Fröstelnd zog ich die Schultern hoch, schloss die Augen und bemühte mich, meine ungemütliche Umgebung zu ignorieren.
Ich ertappte mich dabei, wie ich auf das kleinste Geräusch draußen horchte. Gleichzeitig hoffte und fürchtete ich es. Ich hoffte, dass Jelzick kam, um mich zu befreien, und ich fürchtete die Rückkehr des Unheimlichen. Spukgeschichten meiner Kindheit fielen mir ein.
Vor meinen Füßen huschte ein Wesen von einer Wand zur anderen Wand. Mäuse? Ratten? Quiekte da nicht etwas?
Wieder tastete ich die Steinwände ab. Rau und kalt standen sie unverrückbar aufeinander. Wenn die erzählen könnten!
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