Mordswald - Hamburgkrimi
Gentleman, ganz der formvollendete
Kavalier." Sie lachte auf. "Sogar meine Mutter war ganz angetan von
ihm, und sie legt wirklich großen Wert auf die Feinheiten der Etikette."
Dann wurde sie wieder ernst. "Aber ich vermute, dass er bei Menschen, die
ihm nichts zu bieten hatten, ganz andere Seiten aufziehen konnte. Ich habe
seine Eltern und seinen Bruder nicht oft gesehen, wir beschränkten die Kontakte
zu beiden Familien auf ein Minimum. Aber wie er mit seinem Bruder umsprang …
oder seinen Eltern." Sie schüttelte den Kopf. "Unglaublich. Er hat
ihnen seine Verachtung ganz offen gezeigt. Einmal hat er tatsächlich den
Sonntagsbraten seiner Mutter mit der Begründung abgelehnt, er sei inzwischen so
an die Gourmetküche gewöhnt, dass er das Zeugs nicht mehr herunterbringe. Seine
Mutter musste ziemlich schlucken, und sein Vater hat nach Luft geschnappt, aber
keiner von beiden hat etwas gesagt. Und geändert hat sich auch nichts, sie
haben ihn weiterhin angehimmelt, vor allem sein Bruder und seine Mutter."
"Haben Sie ihn einmal darauf angesprochen?", fragte
Lina neugierig.
"Ja, aber er spielte das Ganze herunter und meinte,
seine Mutter könne einfach nicht kochen, und ich solle froh sein, dass er mich
davor bewahrt habe. Ich habe es dabei bewenden lassen, denn schließlich ging es
mich nichts an, wie die Familie Birkner miteinander umging." Sie schwieg
nachdenklich. "Wenn ich es recht überlege, war das mein letzter Besuch bei
seinen Eltern."
"Ist er mit seinem Bruder ähnlich grob
umgesprungen?"
Katja Ansmann nickte. "Ich sagte Ihnen ja bereits, dass
er sich mehrmals am Telefon verleugnen ließ oder Verabredungen platzen
ließ." Sie schwieg kurz. "So auch an dem Tag, an dem er starb. Lukas
rief an, kurz nachdem Philip aufgebrochen war. Mehr als ein Mal äußerte er sich
abfällig über Lukas, weil er es nur zum Versicherungsmakler gebracht hatte, und
noch nicht einmal zu einem besonders erfolgreichen. Aber dann wiederum",
fügte sie nach einer kurzen Pause hinzu, "sind sie stundenlang zu zweit
durch die Kneipen gezogen." Sie sah Lina an. "So richtig begriffen
habe ich nie, wie die beiden eigentlich zu einander standen, aber wie gesagt,
persönliche Themen haben wir stets ausgespart."
"Kennen Sie irgendwelche Freunde oder Freundinnen von
Herrn Birkner?"
Kopfschütteln. "Nein. Er war oft allein unterwegs, aber
ich wusste nie, wo oder bei wem er war." Katja Ansmann lächelte dünn.
"Umgekehrt war es ja genauso. Etwas anderes wäre für mich auch nicht
infrage gekommen."
19
D er Sand war weich, die Luft
warm und der Lärm beträchtlich. Lina lag mit gefühlten zehntausend anderen
Hamburgern neben Lutz am Elbstrand und genoss den Sonntag, oder zumindest das,
was davon übrig war. Aus der nahen Strandbar wehte Gelächter und Glasgeklirr zu
ihnen herüber.
Ungeduldig wartete sie darauf, dass sich bei ihr das Gefühl
von Wochenende einstellte, doch der Gedanke an Daniel Vogler, der keine fünf
Kilometer Luftlinie von ihr entfernt in U-Haft saß, ließ ihr keine Ruhe. Lina
dachte mit gemischten Gefühlen an diesen Mann. Einerseits fand sie ihn arrogant
und unsympathisch, und er hatte vermutlich drei Menschenleben auf dem Gewissen.
Doch andererseits hatte man ihm auch übel mitgespielt. Lina erschauderte, als
sie an die Schilderung von Björn Boysen dachte. Dass jemand da auf Rache aus
war, leuchtete ihr ein. Wenn sie sich vorstellte, ihr würde so etwas passieren. Lina
seufzte. Verboten war es trotzdem, von der Frage, ob es moralisch gutzuheißen
war, einmal ganz zu schweigen. Das Bedürfnis nach Selbstjustiz war
nachvollziehbar, war aber auch der direkte Weg zur Willkür und dem Recht des
Stärkeren.
Sie tastete nach der Wasserflasche neben sich. Es war
Sonntag, und sie hatte frei, also hätte sie sich eigentlich ruhig ein Bier
gönnen können, so als krönender Abschluss der Ermittlungen, aber irgendetwas
hatte sie zögern lassen. Irgendetwas nagte an ihr, irgendetwas, was irgendwer
irgendwann gesagt hatte, aber sie kam einfach nicht drauf. Alles sprach dafür,
dass Daniel Vogler drei Menschen getötet hatte … aber trotzdem. Lina starrte in
den blauen Himmel über sich. Blau mit einem Tick grau.
Wochenende. Fast ein bisschen wie Urlaub.
Und sie dachte an die Arbeit.
Sie lag auf dem Rücken, den Kopf in Lutz' Armbeuge, die Hände
auf dem Bauch gefaltet. Erst als Lutz murmelte: "Jetzt hibbel doch nicht
dauernd so rum!", fiel ihr auf, dass sie die ganze Zeit nervös mit den
Fingern trommelte.
"Sorry", sagte
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