Mordswald - Hamburgkrimi
sie und drehte sich auf die Seite.
Daniel Vogler hatte so gut wie sicher Franziska Leyhausen
getötet, vermutlich auch Philip Birkner und Julia Munz. Er hatte für alle drei
Morde ein Motiv, und seine Alibis, zumindest für die jüngsten Verbrechen,
konnte man in der Pfeife rauchen. Lina stützte sich auf den Ellenbogen und
schaute hinaus auf die Elbe. Die großen Containerschiffe zogen träge vorbei und
betätigten sich als Wellenmacher.
"Oh Mann, jetzt entspann dich doch mal! Du hast Feierabend!",
stöhnte Lutz. Er beschirmte die Augen mit der Hand und sah zu ihr hoch.
"Ich dachte, du hättest den Fall gelöst, Miss Marple."
Lina ließ sich wieder zurücksinken. "Tut mir leid. Ich
kann einfach nicht abschalten."
Der Himmel war immer noch da.
Wer, außer Daniel Vogler, hatte denn sonst noch ein Motiv?
Frank Jensen, okay, aber der war zur Tatzeit so abgefüllt gewesen, dass er
vermutlich nur mit Mühe den Weg nach Hause gefunden hatte. Ins Niendorfer
Gehege hätte er es nie und nimmer geschafft. Katja Ansmann? Lina verzog das
Gesicht. Ihre Lieblingsfeindin hatte Max sie genannt. Aber dass sie etwas mit
Philip Birkners Tod zu tun haben sollte, glaubte Lina inzwischen selbst nicht
mehr. Sie dachte kurz an das Treffen von heute Morgen. Eigentlich konnte man
mit der Frau ganz vernünftig reden. Und wie klar sie ihre Beziehung zu Philip
gestaltet hat … ob sie wollte oder nicht, Lina musste anerkennen, dass die Frau
wusste, was sie wollte, und sich nicht die Butter vom Brot nehmen ließ. Was
natürlich nichts daran änderte, dass sie eine von denen war. Eine Hamburger Pfeffersäckin,
die sich wer weiß was auf ihr Hanseatentum einbildete. Lina konnte sich lebhaft
vorstellen, wie die wenigen Begegnungen zwischen ihr und der Familie Birkner
verlaufen waren: Welten prallten aufeinander. Wobei sie sich nicht vorstellen
konnte, dass Katja Ansmann die Eltern ihres offiziellen Lebensgefährten so
offen brüskiert hatte wie Philip. Sie war wahrscheinlich subtiler vorgegangen.
Feine Spitzen, in höfliche Worte verpackt. "Tut mir leid, aber Philip ist
bei einem dringenden Termin. Ihr wart verabredet? Ach, Lukas, das tut mir
wirklich leid, aber Philip ist gerade so beschäftigt …"
Plötzlich saß Lina kerzengerade im Elbsand. Das Wasser aus
der geöffneten Flasche, die sie seit einer Ewigkeit in der Hand hielt, spritzte
hoch und platschte auf ihre Oberschenkel und Lutz' Bauch. Er gab ein japsendes
Geräusch von sich und fuhr ebenfalls hoch. "Was zum Teufel … Verdammt,
Lina! Was ist denn heute bloß mit dir los?"
Lina antwortete nicht, schnappte sich wortlos ihren Rucksack
und kramte nach ihrem Smartphone.
An warmen Wochenendtagen wie diesem war das Niendorfer Gehege
heillos überlaufen. Sämtliche Parkplätze waren belegt, an den Straßen parkten
Wagen dicht an dicht, die Gehwege waren so voll, dass die Spaziergänger
unwillkürlich Rechtsverkehr einführten. Sobald ein Grüppchen stehen blieb, weil
sich jemand einen Schnürsenkel zubinden wollte, weil der Sohn dem Vater oder
die Tochter der Mutter eine ganz besonders knorrig gewachsene Hainbuche zeigen
wollte, weil die Oma es mal wieder im Knie hatte, dann bildete sich sofort ein
Stau, den Radfahrerrudel und Joggerherden durch Ausscheren in alle Richtungen
zu umgehen versuchten, wobei sie sich gegenseitig über die Füße fuhren
respektive vor die Räder liefen. Am Wildgehege gab es kaum noch Stehplätze
direkt am Zaun, die Schlange am Ponyhof reichte bis auf den Parkplatz, in der
Waldschänke herrschte Hochbetrieb. Kindergeschrei hallte durch das lichte
Unterholz, das an manchen Stellen zu kargen Sandflächen plattgetrampelt war,
Mütter und Väter riefen nach ihrem Nachwuchs und über allem dröhnte jetzt zur
Mittagszeit im Minutentakt ein schwerer Düsenjet hinweg, der jede Unterhaltung
unmöglich machte.
Erholung in einer deutschen Großstadt im einundzwanzigsten
Jahrhundert.
Sinnend blieb Max vor den Resten des Absperrbandes stehen.
Nachdem er sich von Niels Hinrichsen verabschiedet hatte und dem kindlichen
Mann noch einmal versichert hatte, dass er seine Sache richtig gut gemacht und
ihm sehr weitergeholfen hatte, war er durch den kleinen Wald gelaufen. Er
setzte bewusst einen Fuß vor den anderen, ließ seinen Atem fließen und
versuchte, sich nicht von den anderen Menschen um sich herum stören zu lassen.
Doch heute fiel es ihm schwer, seine Gedanken zu beruhigen; zu Hause in seiner
stillen Wohnung wäre es ihm vielleicht gelungen, oder im Dojo, in dem
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