Mordswald - Hamburgkrimi
Meter wie
fünfzig, wie fünfhundert.
Lina packte die Frau vom DLRG am Arm. "Ein Seil! Wir
brauchen ein Seil!" Hastig watete sie zu den Booten. Seile und Boote, das
war eins, das gehörte zusammen. Sie fand einen blauen Plastiktampen, viel zu
kurz. Im nächsten Boot ein längeres Seil, ob es reichte, wusste sie nicht, sie
hatte keine Zeit, noch länger zu suchen. Sie dachte nicht nach, griff zu, band
es sich um den Bauch, irgendwie, es würde schon halten. Das andere Ende drückte
sie der Frau in die Hand, die immer noch ihr Funkgerät ans Ohr hielt und keine
Hand mehr frei hatte, um sie aufzuhalten und keine Zeit, um zu protestieren.
Lina rannte ins Wasser, dachte an ihren Urlaub am Atlantik, da war die Brandung
auch nicht höher gewesen, aber der Wind und die Sonne, der Strand, der Geruch
und die Geräusche: Alles war anderes gewesen, und vor allem war es nicht um
Leben und Tod gegangen. Ja, Leben und Tod, und vielleicht würde sie sterben,
aber egal, besser tot sein als Max beim Sterben zuzusehen und dann damit zu
leben, nichts dagegen getan oder es zumindest versucht zu haben.
Das Wasser war warm, es wirkte warm, so durchgefroren war
sie. Als ihr Kopf einmal untertauchte, wurde es auf einen Schlag still, ein
leises, beruhigendes Rauschen verstopfte ihre Ohren. Sie tauchte auf, peilte
den kleinen orangen Punkt an, tauchte wieder unter, schwamm ein paar Züge,
tauchte auf. Sie konnte nicht mehr stehen. Die Strömung zerrte an ihr, riss sie
auf den orangen Punkt zu. Sie tauchte erneut, schwamm mit Zügen, die ihr
kraftvoll erschienen, aber in Wirklichkeit nicht mehr waren als ein hilfloses
Paddeln. Erneut tauchte sie auf, schnappte nach Luft, schluckte Wasser,
verschluckte sich, trat Wasser, atmete Wasser. Sie schrie. Vor Wut, vor Zorn,
weil sie nicht sterben wollte, hier in der braven, kleinen Ostsee, weil sie so
blöd gewesen war zu meinen, sie könnte Max retten, der schließlich nur ein
Kollege war, nur ein Kollege, irgendjemand eben, den sie von der Arbeit kannte,
der selbst so blöd gewesen war, einen Kerl zu retten, der schon einmal einen
Menschen umgebracht hatte, wahrscheinlich sogar zweimal, warum also wollte Max,
dieser Blödmann, überhaupt diesen Birkner retten, sollte der doch ersaufen,
sollte Max doch ersaufen, scheiß drauf.
Max ersoff nicht, und Lina auch nicht. Plötzlich war der
orange Fleck direkt vor ihr, etwas packte sie am Kragen, hielt ihren Kopf über
Wasser. Sie hustete ein paarmal, dann holte sie tief Luft, reine, regennasse
Luft fast ohne Meerwasser. Max' Kopf ragte aus der Rettungsweste, mit der einen
Hand hielt er Lukas Birkner umklammert, mit der anderen Lina. Als sie wieder
denken konnte, nickte sie ihm zu, und er ließ sie los. Sie spürte den Zug des
Seils um ihren Bauch. Gemeinsam mit Max hielt sie den erschöpften Birkner fest,
sie trat Wasser, umklammerte die Rettungsweste und Max darin gleich mit und
spürte, wie sie langsam an Land gezogen wurde. Die Frau vom DLRG hatte
Verstärkung bekommen, drei, vier, fünf Männer mit roten Westen, Seilen,
Taschenlampen, Decken. Sie zogen an dem dünnen Seil, das sich in Linas Bauch
schnitt und ihr fast die Luft zum Atmen nahm, aber sie sagte nichts, keuchte
und schnappte nach Luft, schluckte erneut Wasser, strampelte mit den Beinen,
spürte die ersten Steine unter sich, dann festen Boden, den Strand, das
rettende Ufer. Hände packten sie, zerrten sie hoch, trugen sie fort von dem
Wasser, das töten wollte, von der braven Ostsee, die auch Max und Birkner nur
widerwillig freigab und sich brüllend zurückzog, weil man ihr ihre Beute
entrissen hatte.
Am Fuß der Holztreppe setzte man Lina kurz ab, gleich darauf
Max, mit geschlossenen Augen, halb liegend, halb sitzend. Sie kroch zu ihm,
zitternd und mit aufeinanderschlagenden Zähnen. Als sie ihn erreichte, nahm sie
sein Gesicht in beide Hände.
"Max", flüsterte sie, "Max." Was bist du
doch für ein Idiot, wollte sie sagen, wieso machst du das, du hättest sterben
können, und lohnt sich das denn für so einen, für einen Mörder, einen Schläger,
einen Menschen, der so viel Schlechtes getan hat? Doch sie wusste, was er
erwidern würde: Ja, es lohnt sich. Und sie hatte ohnehin nicht die Kraft für so
viele Worte und sagte nur immer wieder: "Max, Max."
Langsam öffnete er die Augen.
"Lina", sagte er und sah sie an.
In diesem Moment packte einer der Männer des DLRG sie unsanft
am Arm und zog sie hoch. "Kommen Sie", schrie er ihr ins Ohr,
"wir müssen hier weg."
Lina richtete sich auf,
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