Mordswald - Hamburgkrimi
DLRG-Abzeichen auf der Weste hielt sie
fest und half ihr beim Aufstehen. Als sie Lina zur Holztreppe führen wollte,
bloß weg aus der Gefahrenzone, riss Lina sich los. Sie sah zu den Booten der
Segelschule. Kein Max. Kein Lukas. Die Frau ergriff ihren Arm und wollte sie
erneut in Richtung Treppe zerren. Lina zog ihr Handy aus der Jackentasche, doch
das Display war tot. Abgesoffen.
"Kommen Sie, wir müssen hier weg!", brüllte die
Frau ihr ins Ohr. "Jeden Moment kann die Steilküste runterkommen!"
Lina riss sich erneut los. Sie zückte ihren Dienstausweis,
der zum Glück wasserfest war, und hielt ihn der Frau vor die Nase.
"Kripo Hamburg. Wo sind die beiden Männer, die vor mir
waren?"
"Welche Männer? Ich habe nur Sie gesehen. Und jetzt
kommen Sie."
Linas Magen krampfte sich zusammen. Sie rannte zu den Booten,
die Frau vom DLRG lief ihr schreiend hinterher.
Der Regen setzte ein. Erst nur wenige, schwere Tropfen,
Sekunden später prasselte es in einem dichten Vorhang herunter, der die Sicht
auf wenige Meter begrenzte. Die Frau hinter ihr schrie etwas und packte ihre
Schulter.
Lina drehte sich um. "Haben Sie ein Handy oder Funkgerät
dabei?" Sie wartete kaum das Nicken ab. "Dann fordern Sie Verstärkung
an. Männer, Boote, Hubschrauber, was weiß ich. Zwei Männer werden vermisst. Ein
Tatverdächtiger und ein Polizeibeamter."
Die Frau öffnete den Mund, um etwas zu sagen, doch Lina
schrie nur: "Jetzt machen Sie schon!" Sie hörte selbst die Panik in
ihrer Stimme und holte tief Luft, um ihre Angst zu zügeln. Sie rannte durch das
knietiefe Wasser von Boot zu Boot und brüllte laut Max' Namen. Sie sah den
Strand hinunter, doch in diesem Chaos konnte sie kaum die Hand vor Augen
erkennen. Das Meer war eine einzige schäumende Waschküche, und sie konnte nicht
unterscheiden, wo die Gischt aufhörte und der Regen begann. Sie stolperte über
eine Ankerkette und platschte kopfüber ins Wasser. Es war eiskalt, aber es
vertrieb den letzen Rest Nebel von der Ohnmacht. Sie hielt sich an einem wild
schwankenden Boot fest und kam mühsam wieder auf die Beine. Die Wellen wollten
sie umreißen, aber sie weigerte sich, sich umreißen zu lassen, und starrte
angestrengt hinaus in dieses weiße, brausende Toben. Die Blitze kamen jetzt im
Sekundentakt, der Donner hörte gar nicht wieder auf. Ein Stück rechts von sich,
vielleicht dreißig Meter vom Strand entfernt, meinte sie, eine größere weiße
Masse zu erkennen, die in den hohen Wogen auf und ab tanzte. Sie watete näher
ans Ufer und rannte auf den Schemen zu. Die Frau vom DLRG folgte ihr. Sie hatte
den weißen Fleck ebenfalls entdeckt und deutete wild gestikulierend darauf. In
der rechten Hand hielt sie ein Funkgerät. Lina verstand nur Bruchstücke von
dem, was sie hineinschrie. Sie hatte ihre ganze Aufmerksamkeit auf den weißen
Fleck in der weißen Gischt gerichtet. Im grellen Licht der Blitze erkannte sie
das kleine Boot, das in den Wellen hin und her schaukelte und immer wieder im
Wellental verschwand. Lina versuchte angestrengt, etwas zu erkennen. Waren Max
und Lukas in diesem Boot? Oder nur einer von ihnen? War das dort vorne nicht
ein Kopf? Ein ausgestreckter Arm? Der dürre Mast des Bootes ragte in die Höhe
wie ein Strohhalm, an den sich Ertrinkende klammerten. Dreißig Meter, und doch
unendlich weit fort. Konnte Max schwimmen? Mit Sicherheit, aber wie gut? Lina
widerstand dem Impuls, sich ins Wasser zu stürzen und hinzuschwimmen. Sie
drehte sich zu der Frau vom DLRG um.
"Kann man da nicht ein Boot hinschicken?", schrie
sie.
Die Frau schüttelte den Kopf. "Ist viel zu gefährlich.
Wir würden uns nur selbst in Gefahr bringen."
Lina richtete den Blick wieder aufs Meer, auf die Stelle
dreißig Meter vor sich, wo sie das Boot zuletzt gesehen hatte. Ihre Kehle
schnürte sich zu. Das Boot war fort. Untergegangen, und mit ihm Max. Nein, dort
war es! Sie hätte beinahe vor Erleichterung geweint, oder weinte sie bereits
und merkte es nicht, weil ihr Gesicht ohnehin nass war, weil alles an ihr nass
war, nass und kalt und taub?
Da! Ein Kopf, ein schwarzer Schopf. Max. Es musste Max sein.
Sie meinte einen Schrei zu hören, aber sie konnte sich nur irren. Niemand würde
dreißig Meter Sturm und Tosen und Wüten überschreien können. Ein winziger
orangefarbener Punkt. Der Punkt entfernte sich von dem weißen Flecken, der das
Boot war und inzwischen weitere fünf Meter von der Küste abgetrieben worden
war. Fünf Meter. Fünf Meter mal Regen mal Wellen mal Wind. Fünf
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