Mordswald - Hamburgkrimi
Sicherheit, wer
es war – oder ob sie beide zusammen gefahren sind. Laut Tacho hat
derjenige zweihundertsiebzig Kilometer zurückgelegt." Er schluckte.
"Einmal nach Hamburg und zurück."
20
W arum haben Sie das damals
nicht der Polizei erzählt?", fragte Lina. Der Verkehr wurde wieder
dichter, als sie an Lübeck vorbeifuhren. Schwere Gewitterwolken hingen am
Himmel.
Klaus Birkner schwieg lange Zeit. "Mich hat nie jemand
gefragt. Ich war damals viel unterwegs, auf Montage. Meine Frau wurde einmal
befragt, ob sie Philips Aussage bestätigen kann. Natürlich konnte sie! Selbst
wenn sie zugesehen hätte, wie einer ihrer Söhne einen Mord begeht, hätte sie
für ihn gelogen. Aber sie wusste gar nicht, dass jemand nachts mit dem Auto
gefahren ist."
"Sie haben nie mit Ihrer Frau darüber gesprochen? Oder
mit Ihren Söhnen?", fragte Lina. Der Himmel war mittlerweile fast ein
durchgehendes Dunkelgrau. "Hatten Sie jemals einen Ihrer Söhne besonders
in Verdacht?", fragte sie leise.
Klaus Birkner sah aus dem Fenster. "Am Morgen nach
meinem Geburtstag waren beide Jungs auffallend still. Lukas war völlig
übernächtigt, seine Hände zitterten." Er schluckte. "Auf der Stirn
hatte er einen frischen Kratzer. Auf die Frage meiner Frau, wo er den herhätte,
antwortete er, er habe sich wohl an irgendeinem Dornenzweig gekratzt." In
dem Moment hatte Philip sich eingemischt und erklärt, sie seien in der Nacht
noch mal unterwegs gewesen, am Strand. Und tatsächlich gab es auf dem Weg
dorthin einige stachelige und dornige Pflanzen: Heckenrosen, Weißdorn,
Brombeeren. Die Eltern ließen die Sache auf sich beruhen und hakten nicht
weiter nach. Erst später am Tag fiel dem Vater der Tachostand auf, doch er
lächelte insgeheim über die, wie er vermutete, gemeinsame Spritztour seiner
Söhne. Erst als sie wieder in Hamburg waren, eine Woche später, erfuhren sie
von dem Mord an dem Mädchen, und Klaus Birkner fing an, sich Gedanken zu machen
und seine Söhne zu beobachten. Lukas blieb in diesem Sommer auffallend oft zu
Hause, traf sich kaum mit seinen Freunden, während Philip ein Praktikum in
einer Softwarefirma machte und regelrecht aufzublühen schien. Mehrere Male
wollte Klaus Birkner seine Söhne fragen, ob sie etwas mit dem Tod des Mädchens
zu tun hatten, aber stets verließ ihn im letzten Moment der Mut.
Lina versuchte sich vorzustellen, wie es sein musste, mit
solch einem Verdacht zu leben: dass einer der Söhne oder sogar beide ein
Menschenleben auf dem Gewissen hatten. Sie schaffte es nicht. Es war still, nur
das gleichmäßige Summen des Motors war zu hören.
"Sie wissen also nicht mit Sicherheit, ob einer Ihrer
Söhne …?"
Klaus Birkner senkte den Kopf. "Zwischen den beiden
hatte sich etwas verändert. Ja, Philip war schon immer der Erfolgreichere der
beiden gewesen, und er hatte Lukas schon immer getriezt und geärgert. Aber bis
dahin hatte Lukas sich wenigstens ab und zu noch zur Wehr gesetzt, hatte sich
mit seinem Bruder gestritten oder sich hin und wieder geweigert, zu tun, was
Philip von ihm verlangte. Aber danach … es war, als stünde er vollkommen unter
dem Bann seines Bruders. Philip sagte Hü, und Lukas kuschte." Er holte
tief Luft. "Bis dahin war Lukas immer ein recht guter Schüler gewesen,
genau wie Philip. Doch in seinem letzten Jahr ließen seine Leistungen
schlagartig nach. Sogar sein Abitur schaffte er nur mit Mühe und Not."
Klaus Birkner blickte erneut aus dem Fenster, an dem endlose
Maisplantagen vorüberzogen. "Ich bin mir sicher, dass Philip wusste, dass
Lukas etwas mit dem Tod des Mädchens zu tun hatte. Entweder, weil sie zusammen
nach Hamburg gefahren waren, oder weil er Lukas erwischt hat, als dieser
spätnachts wieder nach Hohwacht kam." Er schloss die Augen. "Und er
hat es Lukas spüren lassen, dass er ihn in der Hand hatte."
"Und Lukas hatte keine Möglichkeit, sich dagegen zu
wehren, wenn er sich nicht selbst ans Messer liefern wollte", sagte Lina
leise.
Klaus Birkner nickte stumm.
In Hohwacht, einem kleinen Ferienort direkt an der Küste,
lebten normalerweise weniger als tausend Menschen, doch zur Hochsaison
schnellte die Einwohnerzahl in die Höhe. Das kleine Häuschen der Familie
Birkner lag früher einmal etwas außerhalb des Ortskerns, war jedoch inzwischen
in eine Ferienhaussiedlung eingebettet. Die kleine Wohnstraße war normalerweise
wie ausgestorben, doch jetzt hatte sich vor einer Polizeiabsperrung ein kleiner
Pulk Schaulustiger angesammelt.
"Unter unauffälliger
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