Mordswald - Hamburgkrimi
Steinhagen einen
Lügner.
Er lachte. "In deiner Geburtsurkunde ist kein Vater
angegeben", sagte er. Lina musste sich setzen. Wenn er wusste, was in
ihrer Geburtsurkunde stand … Hatte ihre Mutter hinter ihrem Rücken Kontakt zu
ihm aufgenommen? Sie fühlte sich verraten und verkauft, knallte den Hörer auf
die Gabel, verließ das Haus und trieb sich mehrere Tage auf der Straße und bei
Freunden herum, ehe ihre Mutter sie endlich fand und ihr versicherte, seit mehr
als sechzehn Jahren nicht mit Meinhart Steinhagen gesprochen zu haben.
Lina seufzte und sah Max an, der die ganze Zeit über nicht
einen Ton gesagt hatte. "Er ließ nicht locker, versuchte es immer wieder.
Schließlich wurde meine Neugier doch geweckt, und wir trafen uns, auf dem
Ohlsdorfer Friedhof." Sie verzog das Gesicht. "Ein merkwürdiger Ort
für das erste Treffen zwischen Vater und Tochter, ich weiß, aber eigentlich
auch ganz passend. Unsere Beziehung war von Anfang an eine Totgeburt." Der
Ohlsdorfer Friedhof im Norden Hamburgs war der größte Parkfriedhof der Welt,
eine weitläufige, aufwändig gestaltete Anlage, in der viele alteingesessene
Hamburger Kaufmannsfamilien eigene Mausoleen hatten, so auch die Familie
Steinhagen. Ihr Vater führte Lina zum Grab ihrer Vorfahren, und ob sie wollte,
oder nicht, beim Anblick des alten, moosbesetzten Rundbaus empfand sie einen
Moment lang so etwas wie Ehrfurcht, aber auch ein Gefühl von Verbundenheit mit
den Menschen, die dort begraben lagen. Zum ersten Mal in ihrem Leben wurde ihr
klar, dass ihre Familie aus mehr bestand als ihrer Mutter und Christian. Asta
Svenson war ein Einzelkind, ihr Vater war als Angehöriger der dänischen Minderheit
in Schleswig-Holstein bald nach der Geburt seiner Tochter nach Dänemark
übergesiedelt, ohne Frau und Kind mitzunehmen. Astas Mutter stammte aus einer
Kieler Arbeiterfamilie ohne langen Stammbaum. Und jetzt stand sie hier am
Grabmal ihrer Vorfahren, die zum Teil seit der Eröffnung des Friedhofs 1877
hier ruhten. Rasch wandte Lina sich ab, rieb sich über die Arme, als sei ihr
kalt, obwohl es ein warmer Tag war, und betrachtete verstohlen den Mann neben
sich. Meinhart Steinhagen musste damals Mitte bis Ende vierzig gewesen sein, er
trug einen maßgeschneiderten Anzug, Krawatte und ledernde Halbschuhe. Und als
ob das nicht gereicht hätte, war er mit einem dicken BMW gekommen und stank
nach Rasierwasser. Seinen Blicken nach zu urteilen, schien das Treffen mit
seiner Tochter ihn ähnlich zu schockieren. Lina hatte gerade den Punk für sich
entdeckt, trug einen Lederminirock, zerrissene Netzstrumpfhosen und
Springerstiefel. Ihre Frisur waren ein Kunstwerk aus roten, gelben und grünen
Stacheln, die Ohren vor lauter Ringen kaum zu erkennen, an den Brauen, der
Nase, der Lippe und der Zunge war sie ebenfalls gepierct. Wann sie sich das
letzte Mal ungeschminkt auf die Straße getraut hatte, wusste sie schon gar
nicht mehr.
Wie sich rasch herausstellte, wollte keiner von beiden, dass
ihre enge Verwandtschaft publik wurde. Lina, weil sie die Abneigung gegen die
da oben schon mit der Muttermilch eingesogen hatte und sie sich schon jetzt wie
eine Verräterin vorkam, und Meinhart Steinhagen, weil er seine Ehe nicht dadurch
aufs Spiel setzen wollte, dass seine Gattin von einem Seitensprung aus der Zeit
erfuhr, als sie gerade mit dem ersten Kind schwanger war. Johanna Meinhagen war
knapp fünf Monate älter als Lina.
Sie schwieg und löffelte den letzten Rest Milchschaum aus dem
Glas.
"Und dann?", fragte Max schließlich.
Lina zuckte die Achseln. "Nichts und dann. Wir haben uns
danach nie wieder gesehen. Meine Neugier war gestillt, ich hatte meinen
richtigen Vater kennengelernt und mochte ihn nicht. Und er …" Sie hob
erneut die Schultern. "Ich denke, dass er sich nie wirklich für mich
interessiert hat. Er wollte nur herausfinden, ob ich ihm gefährlich werden
könnte. Eine uneheliche Tochter passte ihm überhaupt nicht in den Kram."
"Aber heute ist das anders?"
"Seine Frau ist inzwischen gestorben", erklärte
Lina, "er hat also nichts zu verlieren, falls bekannt würde, dass er eine
uneheliche Tochter hat."
"Aber warum", sagte Max nachdenklich, "hat er
dich am Sonntag plötzlich angerufen und dir von der drohenden Insolvenz des
Bankhauses Ansmann erzählt?"
Er merkte, wie etwas in Lina sich veränderte, wie sie
umschaltete von Vergangenheit auf Gegenwart, von Erinnerung auf Ermittlung. Sie
zog die Beine unter den Stuhl, ihr Blick wurde konzentrierter. "Es war
nicht
Weitere Kostenlose Bücher