Mordwoche (German Edition)
„Komplimente müssen auch nicht immer ausgesprochen werden.“ Verwirrt wandte der Hauptkommissar den Blick ab. Adriano erlöste ihn aus seiner Befangenheit. Er brachte die Getränke und klebte mit seinen Augen förmlich an der jungen Frau fest. Nur mit einem resoluten „Danke!“ konnte Georg Haller verhindern, dass der Schwerenöter seine Kollegin weiter anstarrte. Lisa-Marie griff nach ihrem Glas: „Ich habe mich zum Beispiel gefreut, dass Sie mich heute gefragt haben, ob wir zusammen was essen gehen.“ Sie lächelte ihn offen an. „Jetzt arbeiten wir immerhin schon etwas mehr als sechs Monate zusammen und da wollte ich Sie fragen, ob wir uns nicht auch duzen wollen. Ich bin die Lisa-Marie.“ Sie sah ihn erwartungsvoll an und hielt ihm ihr Glas entgegen. Georg Haller war eigentlich kein Mann der schnellen Verbrüderungen und das „Sie“ war ihm als Selbstschutz eigentlich ganz lieb. Wo sollten diese lockeren Sitten denn noch hinführen? Trotz aller innerer Widerstände nahm der Hauptkommissar aber sein Glas und sie stießen an. „Georg.“ „Ich weiß.“ Die junge Frau stand auf und beugte sich über den Tisch und drückte ihrem verblüfften Kollegen einen Kuss auf die Lippen. Dieser brachte vor Überraschung nur ein gestottertes „ähm, ja, gut“ hervor. Lisa-Marie lachte jetzt richtig herzhaft. „Georg, das gehört dazu. Das macht man so. Wirklich.“
Was war das denn gerade? Zweifellos waren sie jetzt in einer neuen Dimension angekommen. Eben war die Welt doch noch in Ordnung und Georg kannte sich aus. Jetzt saß ihm gegenüber eine Frau, die ihn geküsst hatte. Georg konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen. Er konnte sich nicht erinnern, wann er das letzte Mal geküsst worden war. Ihm war fast ein wenig schwindelig geworden und er wusste nicht, wie er sich jetzt verhalten sollte. Lisa-Marie Töpfers Welt war nicht im Mindesten durcheinander geraten. Zum Glück war Adriano sehr geschäftstüchtig und brachte bereits das Essen. Ausnahmsweise war Georg ziemlich erleichtert, den Pizzeria-Wirt zu sehen. „ Prego Signorina , einmal insalata mista ohne Dressing. Und für den Herrn Canelloni al forno . Buon appetito !“
„Adriano!“ Der Angesprochene setzte den Teller vor dem Hauptkommissar ab und drehte sich um. Ein überaus gutaussehender Mann um die dreißig kam ihm entgegen und ließ sich von dem kleinen Wirt umarmen. Scheinen zwei alte Bekannte zu sein, dachte sich Georg noch, bevor er sich seinen Nudeln zuwandte. Lisa-Marie hatte nichts von der Befangenheit ihres Kollegen bemerkt. Sie nahm im Plauderton den Faden wieder auf. „Also von dem da“, sie wies mit dem Kopf in Richtung Bar, an die sich der Fremde gesetzt hatte, „würde ich mir auch gern mal ein paar Komplimente machen lassen. Da wäre es mir auch ganz egal, wenn es nur windige Sprüche wären.“ Da war es wieder, das kleine Polizei-Küken, das noch nicht ganz trocken war hinter den Ohren, dachte Georg. Er konnte den Mann nur von hinten sehen, aber auch das reichte ihm, um zu erkennen, dass dieser optisch in einer ganz anderen Liga spielte als er selbst. Gut angezogen, dezenter Chic. Schlanke, sportlich-elegante Erscheinung, dunkle halblange Locken. Georg schluckte und kam sich in seinem Outfit mehr als deplatziert vor. Zum Glück konnten sie sich jetzt aufs Essen konzentrieren und schließlich hatten sie auch immer noch einen Todesfall, den sie zu klären hatten.
„Ich hätte die Akte Merz gern noch im alten Jahr geschlossen. Vielleicht können wir der Gerichtsmedizin ein wenig Feuer unterm Hintern machen, damit wir die Ergebnisse möglichst schnell bekommen. Die Untersuchungsergebnisse des Wagens liegen sicher auch bald vor. Solange konzentrieren wir uns auf die Zeugenaussagen. Was konntest du in Erfahrung bringen?“ „Also, die Tote scheint nicht sonderlich beliebt gewesen zu sein. Bei der Hausbefragung waren sich die Anwohner eigentlich alle einig, dass Frau Merz eine arrogante Schnepfe gewesen sei.“ Der Hauptkommissar schaute seine Kollegin missbilligend an. „Das war ein Zitat, Chef. Eine der Frauen, mit der ich gesprochen habe, hat gesagt, dass es sicher viele Leute in Bärlingen gäbe, die froh seien, dass es sich bei der Toten um die Autohaus-Besitzerin handle.“ „Irgendeine konkrete Spur?“ „Eine der Töchter von Frau Merz meinte, dass sich ihre Mutter noch mit ihrer verflossenen großen Liebe treffen wollte. Die beiden hätten nach Jahrzehnten den Kontakt wieder aufgenommen. Keine Ahnung, ob
Weitere Kostenlose Bücher