Morgaine 1 - Das Tor von Ivrel
begleiten. Du hast hier beträchtliche Unruhe ausgelöst. Ich hörte das Geschrei. Ich kam herab – zu deiner Rettung, wenn du das Wort verzeihst.«
Morgaine nickte ihm dankend zu und begann neben ihm herzuschreiten. Vanye, wieder unbeachtet, folgte einige Schritte dahinter und behielt Türen und Korridore im Auge.
»Ich habe es wirklich zuerst nicht geglaubt«, sagte Liell. »Ich dachte, Kasedre erlaube sich wieder einmal einen Scherz, oder jemand mache einen Narren aus ihm. Er lebt in einer ausgeprägten Fantasiewelt. Darf ich fragen, warum…?«
Morgaine setzte nun auch gegenüber Liell ihr strahlendes, falsches Lächeln auf. »Nein«, sagte sie. »Ich bespreche meine Angelegenheiten mit niemandem, der hinter mir zurückbleibt. Ich werde bald Weiterreisen. Ich wünsche keine Hilfe. Deshalb sind meine Pläne hier ohne Belang.«
»Liegt dein Ziel auf dem Territorium der Chya?«
»Ich bin dort klanwillkommen«, sagte sie. »Allerdings bezweifle ich, ob der Empfang heute so freundlich wäre wie damals. Erzähl mir von dir, Chya Liell. Wie steht es heute um Leth?«
Liell deutete mit eleganter Hand auf die Umgebung. Er war ein Mann, der seine Wirkung kannte und berechnete – gutaussehend, silberhaarig, zurückhaltend dunkelblau gekleidet. Er hob seufzend die Schultern. »Du siehst, wie die Dinge stehen, Lady. Es gelingt mir, Leth zusammenzuhalten, obwohl ich damit gegen die Strömung arbeite. Solange sich Kasedre an seine Vergnügungen hält, gedeiht Leth. Sein dünnes Blut wird allerdings keine weitere Generation hervorbringen. Die Söhne und Enkel von Chya Zri – der ja in deinen Augen nicht bestanden hat, das ist mir bekannt – bilden auf seine alten Tage noch immer das Fundament Leths. Sie dienen mir gut. Das da im Saal, das ist der Rest von Leth, wie er noch besteht.«
Morgaine enthielt sich eines Kommentars. Sie erstiegen die Treppe. Ein verkniffenes kleines Gesicht blickte um eine Biegung, wurde hastig zurückgezogen.
»Die Zwillinge!« sagte Vanye.
»Ah«, sagte Liell. »Hshi und Tlin. Frechlinge, die beiden.«
»Geschickt mit den Händen«, bemerkte Vanye mürrisch. »Sie sind Leth. Hshi ist der Harfenist der Burg. Tlin singt.
Beide stehlen außerdem. Laßt sie nicht in eure Zimmer. Soweit ich weiß, war es Tlin, die für euren Aufenthalt hier verantwortlich ist. Typisch für ihre Streiche.«
»Ihre Mühe war eigentlich überflüssig«, sagte Morgaine. »Mein Weg hätte mich sowieso nach Ra-leth geführt. Ich war in Stimmung, bei euch vorbeizuschauen. Das Mädchen könnte eine unangenehme Qual sein.«
»Bitte«, sagte Liell, »überlaß die Zwillinge mir. Sie werden dich nicht belästigen. Was hat Kasedre eigentlich so in Fahrt gebracht?«
»Er hat sich übermäßig aufgeregt«, antwortete Morgaine. »Anscheinend bekommt er nicht oft mit Leuten von außerhalb zu tun.«
»Nicht mit Leuten von Format – und nicht unter diesen Umständen.«
Sie bewältigten die restlichen Stufen und erreichten den Korridor, an dem ihr Zimmer lag. Die Dienstboten gingen ihren Pflichten nach, zündeten Lampen an. Sie verbeugten sich tief, als Liell und Morgaine eilig an ihnen vorbeigingen.
»Hast du gut gegessen?« fragte Liell.
»Es wurde ausreichend aufgetragen«, antwortete sie.
»Dann schlaf gut, Lady. Nichts wird dich stören.« Liell verbeugte sich förmlich, als Morgaine durch ihre Tür trat, hielt aber Vanye, der ihr folgen wollte, mit ausgestrecktem Arm zurück.
Vanye blieb stehen, die Hand auf den Schwertgriff gelegt, doch Liell schien nicht Gewalt im Sinn zu haben, sondern ein Gespräch. Er beugte sich vor, legte Vanye eine Hand auf die Schulter, eine Vertraulichkeit, wie ein Herr sie gegenüber einem Dienstboten aufbringen mochte. Er sprach mit überhastetem Flüstern.
»Sie ist in großer Gefahr«, sagte Liell. »Leider ahne ich, was sie vorhat. Sie muß fort von hier, heute nacht noch. Ich sage dir das in vollem Ernst.« Er beugte sich noch weiter vor, bis Vanye mit dem Rücken an der Wand stand. Seine Hand packte die Schulter des anderen mit großer Kraft. »Traue Flis nicht, und erst recht nicht den Zwillingen. Und nehmt euch vor Kasedres Leuten in acht.«
»Und du gehörst nicht dazu?«
»Ich habe kein Interesse daran, diese Burg zu ruinieren –
was leicht geschehen könnte, wenn man Morgaine zu nahe tritt. Bitte! Ich weiß, wonach sie strebt. Begleite mich, dann zeige ich es dir.«
Vanye starrte in die ernsten dunklen Augen des Mannes und überlegte. In dem Blick lag eine seltsame
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