Morgaine 1 - Das Tor von Ivrel
wußte, wo der Stall lag – hinter dem kleinen Haus, ein Ort, an dem Erij und er in besserer Zeit einmal ihre Pferde getränkt hatten. Er band den Braunen an einem Ast am Straßenrand fest, legte sich
Wechselbalg
über die Schulter und schlich im Graben am Straßenrand weiter, bis er den Stall vor sich hatte. – Dann lief er über den Hof, huschte in die Schatten und zog die Tür auf. Schon hörte er die Bewegungen der Tiere; die Männer in Romens Haus konnten jeden Augenblick erwachen und bewaffnet ins Freie stürmen, um nach dem Störenfried zu sehen. In der Dunkelheit wählte er das erstbeste Pony, das bereits seinen Halfter trug. Er machte ein Stück Schnur am Ring fest – das einzige, was ihm in die Finger fiel – und führte das Pony rückwärts heraus.
Schritte polterten im Haus. Vanye sprang auf den nackten Rücken des Ponys, verwendete das Halfterseil als Zügel und rammte dem Tier die Hacken in die Flanken; im gleichen Moment wurde die Tür aufgerissen. Das erschrockene Tier jagte auf den Hof hinaus – ein Pferd, das eine solche Behandlung nicht gewöhnt war. Es galoppierte zur Straße und arbeitete sich den Grabenrand hinauf. Vanye schlang die Beine um die breiten Rippen und klammerte sich fest. Schließlich zerrte er den Pferdekopf in die Richtung, die er einschlagen wollte, und als er die Kreuzung bei San-hei erreichte, bog er ab und setzte seinen Weg nach Baien-ei fort – die gewählte Straße war etwas länger, aber dafür abgelegener.
Vor ihm tauchte ein Reiter auf, ein
sai-uyo,
überlegte Vanye, der
uyo
eines weniger bedeutenden Klans, aber immerhin ein
uyo
in Rüstung: der Mann ritt wie ein Krieger. Es bestand keine Hoffnung, daß sein kleines Pony es mit einem richtigen Pferd aufnehmen konnte. Das Zusammentreffen war daher unvermeidlich. Vanye ritt gemächlich dahin und ließ die Beine baumeln, wie ein Herdenjunge, der nach der Tagesarbeit nach Hause zurückkehrte. Nur glühten auf den Anhöhen noch immer die Warnfeuer, und die Straßen wurden bewacht; und rein äußerlich sah er wirklich nicht wie ein Hirte aus, denn Stiefel und Hosen bestanden aus gegerbtem Leder, wie es einem
uyo
anstand und nicht etwa einem Landarbeiter; außerdem trug er ein großes Schwert bei sich, und das weiße Hemd kennzeichnete ihn als einen Mann, der überraschend aus einer großen Burg verjagt worden war, Hochklan,
dai-uyo,
Nhi.
Niedergeschlagen befaßte er sich mit dem Gedanken, daß er den anderen vielleicht umbringen mußte. Er griff an den Gürtel, löste die Schwertscheide und nahm sie in eine Hand, den Drachengriff in die andere. Der
sai-uyo
auf seinem schönen gefleckten Kampfpferd kam näher.
Vielleicht erkannte er bereits, welche Begegnung da bevorstand, denn er bewegte das Bein und hob ebenfalls die Klinge von ihrem Platz am Sattel.
Es handelte sich um einen Sohn Torin Athans: Vanye kannte den Mann nicht, doch die Söhne Athans hatten ein typisches Aussehen, fast als entsprängen sie einem eigenen Klan: langgesichtige, beinahe traurig wirkende Männer mit sauertöpfischem Auftreten, das so gar nicht zur schwungvollen Art Torins paßte. Athan hatte eine vielköpfige Familie: es gab knapp zwanzig Söhne, fast alle legitim.
»
Uyo!«
rief Vanye. »Ich habe keine Lust, mein Schwert ziehen zu müssen: ich bin Nhi Vanye und geächtet, aber ich habe keinen Händel mit dir.«
Der Mann – kein Zweifel, daß er zur Athanfamilie gehörte – entspannte sich etwas. Er ließ Vanye näher kommen, indem er sein Tierzügelte. Neugierig musterte er den anderen; dabei fragte er sich bestimmt, mit was für einem Verrückten er es hier zu tun hatte, der so komisch gekleidet war und dazu noch ein kleines Pony ritt. Selbst auf der Flucht sollte ein Mann besser ausgerüstet sein.
»Nhi Vanye«, sagte er, »wir hatten dich unten in Erd vermutet.«
»Mein Ziel liegt in Baien. Gestern abend habe ich mir dieses Pferd ausgeborgt, es ist am Ende seiner Kräfte.«
»Wenn du die Absicht hast, dir ein anderes zu borgen,
uyo,
solltest du dir das überlegen. Du trägst keine Rüstung, und ich möchte keinen Mord begehen. Du bist Rijans Sohn, und dich umzubringen, obwohl du geächtet bist, wäre für einen
sai-uyo
keine glückliche Sache.«
Vanye verneigte sich leicht und erkannte damit die Einwände an, dann hob er sein Schwert. »Und dies,
uyo,
ist eine Klinge, die ich nicht ziehen möchte. Sie trägt einen Namen und ist verwünscht, und ich trage sie für einen anderen, in dessen Diensten ich
ilin
bin und jedem anderen
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