Morgaine 1 - Das Tor von Ivrel
Harfe. Der Gesang wurde kurz unterbrochen: eine Locke fiel Ryn ins Gesicht, und er streifte sie zurück, legte sie hinter einem Ohr fest. Noch war er kein Krieger, dieser Junge, doch es konnte nicht mehr lange dauern, bis er seine Entscheidung traf. Seine Ehre, sein Stolz waren noch unberührt.
Die Hände setzten das gelenkige Spiel mit den Saiten fort, leise, angenehm, ein Tribut an den Ort und an die zuhörenden Mönche.
Dann ertönte die Vesperglocke, rief die grauen Reihen der Mönche in die Heiligen Orte auf dem Hügel zurück. Es dämmerte.
Sie aßen den Rest der Nahrung, die die Mönche ihnen überlassen hatten, und wachten abwechselnd durch die Nacht.
Morgaine, die als letzte an der Reihe war, schüttelte ihre Begleiter schließlich wach und forderte sie auf, den Weiterritt vorzubereiten.
Am Horizont zeigte sich der rote Streifen der ersten Dämmerung.
Nach kurzer Zeit waren sie gerüstet, die Pferde trugen die Sättel, Morgaine wärmte sich ein letztes Mal am Feuer und blickte sich besorgt im Zimmer um. »Ich kann mir nicht vorstellen, daß sie ein Abschiedsgeschenk von mir haben wollen«, sagte sie. »Außerdem hätte ich nichts zu geben.«
»Sie haben gesagt, es komme nicht darauf an«, versicherte ihr Vanye, und es war klar, daß auch er nichts im Gepäck führte, das für die Mönche von Wert sein konnte.
Ryn durchwühlte seine Sachen und ließ dann einige Münzen auf das Bett fallen – das war alles.
Erst als sie schon unterwegs waren, die morgendliche Welt von den ersten Farben erfüllt, fiel Vanye die Harfe ein; er fand sie nicht mehr auf Ryns Rücken.
Der Jüngling führte nur den Bogen bei sich – diese Entdeckung stimmte Vanye seltsam traurig. Später sah er, wie Morgaine zur gleichen Erkenntnis kam und den Mund öffnete, um etwas dazu zu sagen. Aber dann schwieg sie; es war allein Ryns Entscheidung.
Die Bewohner Baien-ans behaupteten gern, ihr Land sei bei der Erschaffung des Himmels übriggeblieben. Wie immer die Wahrheit aussehen mochte, diese Gegend übertraf sogar Morija an Schönheit. Obwohl es Winter war, hatten das goldene Gras und die grünen Zedern einen besonderen Reiz, und die riesigen Bergketten von Kath Vrej und Kath Svejur umschlossen das Tal mit gewaltigen Schneekämmen. Die Straße führte geradeaus, gesäumt von Hecken – nur in Baien gab es solche Hecken – , und zweimal sahen sie abseits der Straße Dörfer liegen, mit goldenen Dächern, schläfrig in der Wintersonne, in der Nähe weiße Schafherden wie verirrte Wolken.
Einmal mußten sie mitten durch ein Dorf: Kinder starrten mit aufgerissenen Augen hinter den Röcken ihrer Mütter hervor, Männer hielten in ihrer Arbeit inne, wie unentschlossen, ob sie zu den Waffen eilen oder den Reitern einen guten Tag wünschen sollten. Morgaine behielt die Kapuze auf dem Kopf, doch wenn sie schon nicht auffiel, im Männersattel und mit einer Schwertscheide unter dem Knie, dann auf jeden Fall Siptah, der in diesem Land zur Welt gekommen war, ehe die großen Pferdeherden König Tiffwys von den Banditen aus Hjemur mitgenommen worden waren. Das hatten sie nicht lange überlebt: die Baienen meinten, es läge eben daran, daß es sich um die Pferde von Königen gehandelt habe: Leute wie die neuen hjemurn Herren wollten sie nicht.
Aber vielleicht blinzelten die Dorfbewohner ein zweites Mal ins Sonnenlicht und sagten sich, daß sie mit Reisenden, die nach Osten zogen, nun wirklich keinen Händel hatten: nur jene, die aus dem Osten kamen, aus Hjemur, waren so gefährlich, daß sich der Griff nach den Waffen lohnte; außerdem gab es genug graue Pferde, die nicht alten Blutes waren. Siptah war schmaler geworden; Beine und Bauch waren schlammbespritzt, und er verschwendete seine Kraft nicht auf das nervöse Gehabe eines Vollbluts, obwohl er jede Bewegung vor sich mit einem Zucken der Ohren beantwortete und seine Nüstern jeden Geruch aufnahmen.
»Liyo«,
sagte Vanye, als die Siedlung hinter ihnen lag. »Am Abend weiß man in Ra-baien über uns Bescheid.«
»Am Abend«, antwortete sie, »sind wir bestimmt schon in den Bergen dort.«
»Wären wir abgebogen und hätten uns in Ra-baien um ein Willkommen bemüht, hätte man dich vielleicht aufgenommen.«
»So wie in Ra-morij?« antwortete sie. »Nein! Außerdem dulde ich keine weiteren Verzögerungen.«
»Wozu die Eile?« protestierte er. »Lady, wir sind erschöpft, das gilt auch für’dich. Was kommt es nach hundert Jahren auf einen weiteren Ruhetag an? Wir hätten im Kloster
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