Morgaine 2 - Der Quell von Shiuan
Lärm, durchsichtig, übernatürlich groß.
Das Gebilde sprach: es flüsterte Worte in der
qujalin-
Sprache, ein Flüstern, das die Geräusche von den Wänden übertönte. Vanye hörte seinen eigenen Namen von diesen nicht existierenden Lippen kommen und bekreuzigte sich im Ekel vor diesem Ding, das ihn herausforderte, das Morgaine seinen Namen zuflüsterte und andere Dinge, die er nicht verstand: sein Cousin Roh. Er sah das Gesicht, dem seinen ungemein ähnlich, ähnlich wie das eines Bruders — die braunen Augen, die kleine Narbe an der Wange, an die er sich erinnerte. Einwandfrei Roh.
»Bist du dort, Cousin?«
fragte das Bild plötzlich und schickte ein Frösteln in sein Herz.
» Vielleicht nicht. Vielleicht bist du sicher in Ohtij-in zurückgeblieben. Vielleicht ist nur deine Herrin gekommen und hat dich vergessen. Aber wenn du da neben ihr stehst, denk daran, worüber wir uns auf dem Dach unterhalten haben, und erkenne, daß meine Warnung zutrifft: sie ist gnadenlos. Ich versiegle die Brunnen, um sie auszuschließen, und hoffe, daß das genügt. Aber Nhi Vanye, Verwandter, du kannst mitkommen. Verlasse sie. Sie darf nicht passieren; ich wage es nicht. Dich aber akzeptiere ich. Für dich gibt es einen Weg aus dieser Welt, so wie ich ihn auch den anderen schenke, wenn sie es zuläßt. Komm und triff dich mit mir in Abarais; wenn du diese Nachricht nur hören kannst, gibt es noch eine Chance. Ergreife sie und komm!«
Bild und Stimme verblaßten zusammen. Einen Augenblick lang stand Vanye bestürzt da; dann wagte er Morgaine anzuschauen. Eine Frage lag in dem Blick, den sie ihm zurückgab — ein tödliches Mißtrauen.
»Ich gehe nicht«, sagte er nachdrücklich. »Wir haben nichts abgesprochen,
liyo —
niemals! Bei meinem Leben, ich würde nicht zu ihm gehen.«
Ihre Hand war zu der Waffe an der Rückseite des Gürtels geglitten und kehrte nun an ihre Seite zurück; und plötzlich hob sie die Hand, ergriff seinen Arm, zog ihn an das Pult und legte seine Hand auf die kalten Lichter.
»Ich zeige es dir«, sagte sie zu ihm. »Ich zeige es dir, und bei deinem Leben,
ilin,
bei seiner
Seele,
vergiß es nicht!«
Ihre Finger bewegten sich, die seinen unterweisend; er verbannte seine bedrohte Seele, die bei der Berührung dieser kalten Dinge erschauderte, in einen fernen Winkel. Morgaine ließ ihn -dieses und jenes und anderes tun, ein genau vorgeschriebener Ablauf in der Berührung der Farben, erst die eine, dann die andere, dann die nächste; er zwang diesen Rhythmus in sein Gedächtnis, brannte ihn dort ein, kannte er doch den Zweck dessen, was ihm hier mitgeteilt wurde, so wenig es ihm auch nützen mochte angesichts von Rohs Hand, die die Macht vor ihrem zögernden Zugriff versiegelte.
Immer wieder mußte er die Dinge wiederholen, die sie ihn gelehrt hatte; geistlos schwebte Rohs Gespenst über ihnen, wiederholte Worte, die sie verspotteten, endlos, blindlings, ohne jeden Verstand. Vanyes Hände zitterten, als er von neuem begann, doch er tat keinen Fehlgriff. Der Schweiß der Konzentration kribbelte auf seiner Haut, doch immer wieder bat sie ihn um Wiederholung.
Er beendete die Sequenz von neuem und sah sie an, flehte sie mit den Blicken an, daß sie sich nun zufriedengeben möchte, daß sie den Ort verlassen sollten. Sie sah ihn an, Haar und Gesicht vom blutigen Licht verfärbt, als suche sie nach einem Fehler in ihm; und über ihr sprach Rohs Gesicht zum wiederholten Male seine Worte in die pulsierende Luft.
Und plötzlich gab sie ihm nickend zu verstehen, daß es genug sei, und wandte sich der Tür zu, durch die sie gekommen waren.
Sie durchschritten den langen Gang des Raumes. Vanyes Nerven drängten ihn, die Flucht zu ergreifen, loszurennen; aber Morgaine tat es nicht, und da hielt er sich ebenfalls zurück. Seine Nackenhaare sträubten sich, als Rohs Stimme sie verfolgte; er wußte, hätte er sich jetzt umgedreht und geschaut, würde er Rohs Gesicht in der Luft schweben sehen — ihn mit Worten der Vernunft bedrängend, die keine Täuschung mehr enthielten: da war es schon besser, hilflos dazusitzen, während das Meer anstieg, als sich dieser Macht hinzugeben, die ihn von Anfang an belogen hatte, die ihn eine Weile lang hatte glauben lassen, daß in dieser verfluchten Hölle, in diesem endlosen Exil ein Verwandter zu finden sei.
Die Dunkelheit des Treppenhauses lag vor ihnen; Morgaine schloß die Tür und versiegelte sie, riß ihn aus seiner Erstarrung, um ihm zu zeigen, wie so etwas getan wurde. Er
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