Morgaine 2 - Der Quell von Shiuan
die unbestimmten Grenzen überschritten hatte, an die die Menschen sich halten sollten, daß sie uralte Schutzmagien mit der gleichen Mißachtung gebrochen hatte wie der Fremde, der unter den Federstücken an der Tür hindurchgegangen war, ungeachtet der Angst, die er eigentlich hätte spüren müssen.
Wenn Gelegenheit dazu gewesen wäre, hätte sie ihren Großvater vielleicht um eine Erklärung gebeten; aber er war hilflos, sein Schutzzauber war gebrochen, seine Autorität mißachtet. Zum erstenmal stellte sie die Macht ihres Großvaters als Priester in Zweifel — überhaupt die Macht aller Priester. Sie hatte etwas gesehen, das ihr Großvater bisher nicht vor Augen bekommen hatte, das er noch immer nicht sehen konnte; sie hatte Boden betreten, der seit der Zeit der Könige unberührt gewesen war.
Die Feste schien ihr plötzlich winzig und gefährdet inmitten der wilden Öde von Hiuaj, ein Ort, an dem die Illusion der Ordnung wie eine in den Wind gestellte Kerze war. Die Wirklichkeit jedoch war die Dunkelheit, die schweratmend an ihrer Schulter lehnte.
Diese Menschen durften ihn nicht vernichten, in ihrem verrückten Vertrauen auf die Ordnung und ihre eigene geistige Gesundheit. Jhirun überlegte, ob sie sich überhaupt fragten, was er war, ob sie in ihm etwa nur einen erschöpften und verwundeten Geächteten sahen und sich in ihrer Einschätzung völlig sicher waren. Sie waren blind, wenn sie sein Wesen nicht zu erkennen vermochten, die uralte Rüstung und das große schwarze Pferd, das in dieser Zeit der Welt nichts zu suchen hatte, geschweige denn in Hiuaj.
Vielleicht wollten sie die Wahrheit nicht sehen, denn dann mußten sie sich vor Augen führen, auf welch tönernen Füßen ihre Sicherheit stand.
Und vielleicht würde er nicht weiterziehen. Vielleicht war er gekommen, um ihren Frieden zu stören — um Barrow-Feste zu einer Ruine zu machen, wie Chadrih es war, um eine letzte Spur über die ertrinkende Welt zu reiten, die letzte Ruhmestat der Hiau-Könige, die versucht hatten, die Brunnen zu meistern, und die dabei gescheitert waren, wie zuvor schon die Halbling-Shiua.
Sie hatte es nicht eilig, ihn zu wecken. Vor Angst erstarrt saß sie da, während das Unwetter verstummte, während das Feuer im Herd erstarb und niemand vorzutreten wagte, um nachzulegen.
3
Gegen Morgen rührte sich draußen etwas, ein weiches Scharren auf dem Pflaster. Jhirun erwachte aus leichtem Schlaf und hob den Kopf, die Schulter taub vom Gewicht des Fremden.
Zai trat ein, zitternd und naß, die stämmige Zai, die losgerannt war, um das Alarmfeuer zu entzünden. Sie trat bebend und mit blauen Lippen ein, und ihr Rocksaum tropfte. Sie bewegte sich so leise es ging.
Hinter Zai krochen andere aus dem Nebel herein, der dem Regen gefolgt war; die Männer kamen einer nach dem anderen, bewaffnet mit Messern und ihren Bootsstangen. Niemand sagte etwas. Sie kamen herein, die Blicke hart und wachsam, die Waffen kampfbereit erhoben. Jhirun betrachtete sie, und das Herz klopfte ihr heftig gegen die Rippen, ihre Lippen formten stumme Bitten an ihre Cousins, ihre Onkel.
Onkel Naram wagte sich als erster zur Feuerstelle, gefolgt von Onkel Lev, neben sich Fwar und Ger. Cil erhob sich plötzlich von der Bank an der Tür, doch Jinel war schon bei ihr, ergriff ihren Arm und forderte sie zum Schweigen auf. Jhirun warf einen verzweifelten Blick auf ihren Großvater, der hilflos an der Stalltür stand und die Männer ansah, die sich mit gezogenen Waffen näherten.
Vielleicht verkrampften sich ihre Arme ein wenig, vielleicht ertönte ein Geräusch, das ihre mitgenommenen Ohren nicht registrierten; jedenfalls erwachte der Fremde plötzlich, und sie schrie auf, als sie den Stoß seiner Arme spürte, die sie in die Mitte der anderen schleuderten.
Im gleichen Moment fuhr er hoch, gegen den Kaminsims torkelnd, und sie stürzten sich auf ihn, Jhirun überrennend, die flach auf dem Boden landete.
Und Fwar, dem es mehr darum ging, die Hand an sie zu legen als an den Feind, verdrehte ihr grausam den Arm, während er sie hochzog. Im Obergeschoß schrie ein Kleinkind, wurde aber schnell wieder zum Schweigen gebracht.
Betäubt von Fwars hartem Griff, blickte Jhirun auf den Fremden, der in die Ecke zurückgewichen war. Sie sah seine Bewegung, die schneller zuckte als der Flügelschlag eines Vogels und den Dolch in seine Hand brachte.
Das ließ die anderen zögern; und schon zupfte er an seiner Seite, und das große Schwert glitt von der Schulter an seine
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