Morgaine 2 - Der Quell von Shiuan
sie solche Dinge überhaupt aussprach. Er blickte zu ihr auf.
»Liyo«,
sagte er mit leiser Stimme. »Wir wollen fortreiten. Wir beide zusammen ... wir wollen diesen Ort verlassen. Vergiß diese Männer, wir sollten uns von ihnen trennen.«
Sie nickte zum anderen Raum hinüber. »Draußen nieselt es noch. Wir reiten heute abend, wenn die Chance besteht, daß die Flut zurückgeht.«
»Sofort«, beharrte er und fügte hinzu, als er sie zögern sah:
»Liyo,
ich habe dir gewährt, worum du mich gebeten hast; nun erfülle mir diesen Wunsch. Ich mache mich sofort auf den Weg, ich suche uns ein Lastpferd und eine Art Zelt als Unterkunft... Lieber Kälte und Regen als heute abend dieses Bauwerk über unseren Köpfen.«
Sie schien in Versuchung zu sein, sehr sogar, sie kämpfte mit der Vernunft. Er kannte die Unruhe, die an ihr nagte, die sich hinter diesen dräuenden Mauern besonders aufgestaut hatte.
Und zum erstenmal spürte er diesen Drang selbst, einen überwältigenden Instinkt, eine Dunkelheit, die sich drohend an ihre Fersen heftete.
Wieder deutete sie auf den anderen Raum. »Die Bücher ... ich beginne sie erst allmählich zu verstehen ...«
»Vertraue diesen Wesen nicht.« Urplötzlich regelten sich alle Dinge in seinem Geiste, gewannen deutliche Gestalt: und einige standen in jenen Büchern, weitere drohten in der Gestalt eines Priesters, der weiter unten am Gang im Dunkeln eingeschlossen war. Diese Dinge, diese Männer konnten ihr schaden. Die menschliche Flut, die um die Mauern Ohtij-ins wogte, bedrohte sie nicht weniger als die
qujal-
Lords.
»Geh!« forderte sie ihn plötzlich auf. »Geh los! Kümmere dich darum! Unauffällig!«
Er riß seinen Mantel an sich, nahm den Helm vom Boden auf und hielt mit einem Blick auf sie inne.
Noch immer war er unruhig, denn es gefiel ihm nicht, an diesem Ort von ihr getrennt zu sein; doch er verzichtete darauf, sie noch nachdrücklicher vor den Männern zu warnen oder sie aufzufordern, ihnen nicht die Tür zu öffnen: es gehörte sich nicht, daß er ihr Befehle gab. Er zog die Kappe hoch, setzte den Helm auf und nahm sich nicht noch die Zeit, den Mantel anzuziehen. Er trat zwischen den neuen Wächtern über die Schwelle und betrachtete die drei mit dunkler Vorahnung — blickte auch den Korridor hinunter zu dem Verschlag, in dem Priester Ginun gefangen saß, ohne daß ihm bisher zu essen oder zu trinken gebracht worden war.
Auch darum mußte er sich kümmern. Er wagte es nicht, die Wächter zu dem Mann zu schicken, zu einem Priester ihres eigenen Volkes, der so schlecht behandelt würde. Mit dem Priester mußte etwas geschehen; er wußte nicht, was.
Hastig warf sich Vanye den schweren Mantel um und knöpfte ihn zu, als er den Korridor durch die eine Tür verließ, nervös durch Säle schreitend, die er unter anderen Umständen kennengelernt hatte — er kam an Sumpfbewohnern vorbei, die sich umdrehten, ihn anstarrten und ein ihm unbekanntes Zeichen machten. Er betrat die Spirale im Kern des Hauptgebäudes und kam an anderen Männern vorbei, spürte ihre Blicke im Rücken, während er nach unten eilte. Obwohl er bewaffnet war, fühlte er sich hier nicht frei oder sicher. Fackeln erhellten den Ort, eine Halterung an jeder Tür, Licht in verschwenderischer Fülle; und die kleinen Männer aus Aren kamen und gingen unbehindert auf der Rampe, nicht wenige betrunken, gekleidet in vornehme Sachen, die zu ihren Bauerngewändern nicht passen wollten. Dann und wann kamen andere Männer an ihm vorbei, groß und ernst wirkend, Männer, die sich von den Sumpfbewohnern fernhielten: Fwars Angehörige, eine Gruppe mit kalten Augen: in ihnen schien ein Zorn zu lodern, der Vanye irgendwie bekannt vorkam.
Die Barrower und die Sumpfbewohner,
hatte Morgaine gesagt, von den Leuten sprechend, die ihr gefolgt waren; Vanye ging plötzlich auf, was dies bedeutete.
Myya.
Jhiruns Angehörige.
Er beschleunigte seinen Schritt nach unten, das Entsetzen, das schwer in der Luft dieses Bauwerks lag, hatte plötzlich einen Namen.
Im Hof war es ruhiger als im Gebäude, hier herrschte eine ohnmächtige Stille, der Nieselregen ließ die Pflastersteine schimmern, einige Gestalten, Shiua oder Sumpfbewohner, wanderten in Mänteln und Schals herum. Vanye sah eine Frau mit zwei Kindern an den Röcken: es wollte ihm seltsam erscheinen, daß es unter den
qujal
keine Kinder gegeben hatte, jedenfalls hatte er keine gesehen; er wußte nicht, warum.
Die Frau, die Kinder, die anderen — sie alle blieben
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