Morgaine 2 - Der Quell von Shiuan
stehen und sahen ihn an. Im ersten Augenblick hatte er Angst, erinnerte er sich doch an die Gewalttätigkeit, die in diesem Hof ausgebrochen war; doch sie machten keine Anstalten, ihn zu bedrohen. Sie beobachteten ihn lediglich.
Er wandte sich den Gehegen und Ställen zu, wo sich ihre Pferde befinden mußten. Vieh muhte in den Gehegen rechts, dort standen einwandfrei versorgte Tiere, besser im Schuß als die Shiua. Die Dächer der Behausungen links waren geschwärzt, die Fenster von den Flammen vernichtet. Trotzdem lebten noch Menschen dort, die ihn verstohlen aus den Türöffnungen beobachteten.
Als er die Stalltüren erreichte, sah er sich um, besorgt, daß sich hinter ihm eine Menge zusammengeschart hätte; doch in der Ferne sah er nur dieselben wenigen Gestalten, die den Blick nicht von ihm abwandten. Er vertrieb sie aus seinen Gedanken, schob langsam die Stalltür auf und betrat die Dunkelheit, in der es angenehm nach Heu und Pferden roch.
Es war ein großes, weiträumiges Bauwerk, das sich unregelmäßig um das innere Burggebäude zog. Bis auf die erste Reihe schienen die Boxen aber leer zu sein. Rechts zählte Vanye neun, zehn Pferde, meistens Braune; und links, getrennt von den anderen, sah er Siptahs hellen Kopf, die Ohren aufgestellt, die Nüstern bebend; weil er die Gegenwart eines bekannten Menschen spürte; in einer leeren Box weiter hinten stand ein Schatten — sein Andurin-Wallach.
Auf Stangen am Ende des Gangs hingen die übriggebliebenen Geschirre: er sah Siptahs Zaumzeug und vermutete, daß die Ausrüstung seines Pferdes in der Nähe hing. Er verweilte einen Augenblick lang an den Boxen, hielt Siptahs forschender Nase eine Hand hin, tätschelte die breite Wange und ging schließlich weiter, um sich zu vergewissern, ob es seinem Pferd ebenfalls gut ging. Der Schwarze schnappte mit den Lippen nach seinem Ärmel; Vanye faßte in die Mähne des Tiers und tätschelte ihm sanft den Hals. Dabei stellte er fest, daß jemand soviel Pferdeverstand besessen hatte, beide Tiere abzureiben, eine Aufgabe, die er selbst versäumt hatte. Er war froh darüber: als Kurshin war er es nicht gewöhnt, sein Tier der Pflege eines anderen anzuvertrauen. Er überprüfte die Hufe und fand nichts auszusetzen: ein Hufeisen war frisch festgemacht worden, wieder nicht sein Werk: hier hatte ein Fachmann gearbeitet, und er fand keinen Grund zur Klage, obwohl er danach suchte.
Jetzt begann er die Tiere vorzubereiten. Sie brauchten Hafer ebenso dringend wie den Proviant für den eigenen Bedarf: der vorgesehene Weg war zu unsicher, um sich ohne solche Last auf den Weg zu machen. Vanye suchte an den üblichen Stellen und fand schließlich die Lagerwannen, dann sah er sich um, ob unter den verbleibenden Sachen auch ein Packsattel lag. Doch er fand nichts, was sich für seine Zwecke eignete. Schließlich füllte er seine Satteltaschen, bis es nicht mehr ging, und nahm dann Morgaines und seine Sachen und ordnete alles auf den Gattern der jeweiligen Boxen an, zum Satteln bereit.
In den Schatten bewegte sich etwas im Stroh. Im ersten Augenblick glaubte er an ein weiteres Pferd, doch es war zu nahe. Das plötzliche Hochfahren der Ohren des Wallachs und das Geräusch alarmierten ihn sofort: er fuhr herum, griff nach der Ehrenklinge und fragte sich, wie viele es waren, und von wo sie angriffen.
»Lord«, sagte eine leise Stimme in der Dunkelheit, eine zitternde weibliche Stimme.
Er stand still und stemmte den Rücken gegen das Gatter der Box, obwohl er die Stimme kannte. Gleich darauf bewegte sie sich, und er sah einen weißen Fleck in der Dunkelheit bei den Geschirrgestellen, wo die Fenster verhängt waren.
»Jhirun«, rief er leise.
Sie kam mit vorsichtigen Schritten näher, als wäre sie sich noch nicht sicher, ob' sie ihm trauen sollte. Sie trug noch immer Rock und Bluse, die ziemlich zerrissen waren; in ihrem Haar hingen Strohhalme. Mit einer Hand hielt sie sich an der nächsten Gatterstange fest und blieb in sicherem Abstand stehen. Sie stand, als hätten ihre Beine Mühe mit dem Gewicht des Körpers.
Er steckte die Klinge wieder in die Scheide, duckte sich unter der obersten Stange hindurch und trat in den Gang. »Wir haben dich gesucht«, sagte er.
»Ich bin bei den Pferden geblieben«, sagte sie mit dünner Stimme. »Ich wußte, daß
sie
gekommen war. Ich wußte nicht, ob du noch lebtest.«
Er atmete erleichtert auf bei der Erkenntnis, daß zumindest dieser Alptraum jeder Grundlage entbehrte. »Du bist in Sicherheit.
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