Morgen früh, wenn Gott will
an war er irgendwie verändert. Einen Augenblick lang wirkte es so, als wolle er hinter seinem Schutzwall hervorkommen. Ich richtete den Blick erneut auf das Bild.
»Wie auch immer, ich wünschte, ich könnte zeichnen wie sie.«
»Wer sagt, dass Sie das nicht können?«
»Oh, ich wünschte es mir.«
»Finden Sie nicht, dass man sie ein wenig … hochjubelt?«
»Wenn Sie finden, dass sie hochgejubelt wird, warum haben Sie dann ein Bild von ihr an der Wand?«
»In erster Linie als Investition.«
Ich wusste, dass er log. Sich wieder hinter einer seiner Masken versteckte. »Ist das nicht ein wenig deprimierend? Kunst sollte man sich aufhängen, weil man sie liebt, finde ich.« Begeistert fuhr ich fort. »Oder weil sie uns die Flucht ermöglicht. Oder uns irgendwie bewegt. Leidenschaften aufwühlt, große Gefühle.«
»Ist das wirklich so?« Jetzt starrte er mich an. Ich hatte das unbestimmte Gefühl, dass er von mir keine Antwort erwartete. »Nun, dann mag ich das Bild vielleicht nicht.«
»Und, ist das so?«
»Nein. Aber vermutlich würde Sie das weniger beunruhigen, oder?«
Nervös lächelte ich. Er richtete den Blick erneut auf meine Arbeiten. »Wissen Sie, das ist gar nicht so schlecht …«
Stille trat ein. Ich merkte, dass er meinen Namen nicht kannte.
»Jessica. Die meisten Menschen allerdings nennen mich Jess.«
»Jessica. Diese Arbeiten sind ausgezeichnet. Sie haben wirklich verstanden, worum es geht.«
Ich versuchte, die aufsteigende Röte meiner Wangen zu verbergen, doch im Geheimen jubelte ich. »Danke.«
Sein Telefon klingelte. Er hob ab und drehte sich in seinem Ledersessel um, bis er mit dem Rücken zu mir saß. Ich wartete noch eine Minute, dann wurde mir klar, dass das Meeting offensichtlich vorüber war. Ich sammelte meine Entwürfe ein und ging; die ganze Woche über war ich sauer. Und er ignorierte mich. Nur einmal an einem Nachmittag, als ich an einer Montage arbeitete und voll konzentriert, die Zungenspitze zwischen den Zähnen und den Bleistift im Haar vergraben, über meiner Arbeit saß, spürte ich plötzlich seinen Blick auf mir ruhen. Er sah mich durch die gläserne Wand an und schenkte mir dieses ungeheuer langsam sich entfaltende Lächeln, bevor er sich wieder umdrehte.
Meistens ging ich mit meinen neuen Kommilitonen vom St. Martins aus und trank zu viel, da ich endlich den Traum lebte, an den ich nie so recht geglaubt hatte. Dann schleppte ich mich nach Hause ins Bett und war glücklich.
Eines Abends blieb ich länger im Büro, weil ich noch »Haus aufgaben« machen musste und damit nicht so recht klarkam. Der ungewöhnlich warme Frühling schickte sich gerade an, Sommer zu werden, und die Klimaanlage war kaputt. Ich arbeitete, bis ich vor Hitze fast verging, dann zog ich mich bis auf das alte Unterkleid aus, das ich unter dem Trikotkleid trug. Durch das offene Fenster drangen die Geräusche des abendlichen Soho herein: Polizeisirenen, Geplauder, Pfiffe, Lachen, Streitereien, Autos, das Geräusch scharrender Füße und das Läuten der Rikschaglocken. Ich saß so konzentriert über meiner Arbeit, dass ich zusammenfuhr, als die Tür sich öffnete. Mickey schlich leise wie eine Katze durch den Raum. Er trug eine Flasche Champagner in der Hand und hatte einige japanische Kunden im Schlepptau. Offensichtlich wollte er einen abgeschlossenen Deal in seinem Büro mit einem Umtrunk besiegeln.
»Entschuldigung«, stotterte ich und sprang von meinem Stuhl auf. Mit dem Fuß schob ich die Vorlage für die Hausaufgabe so weit wie möglich unter den Schreibtisch.
»Jessica«, entgeistert musterte er mein Unterkleid, dann warf er seinen Kunden einen Blick zu. Dann sagte er ganz leise: »Das ist wohl nicht ganz die passende Kleidung fürs Büro, oder?«
Beschämt angelte ich nach meinem Kleid, als die japanische Dame in hochelegantem Mitternachtsblau mir zunickte. Ihr kleiner, hochmütiger Kollege schenkte mir nicht einen Blick. Ich nickte zurück und war mir dabei schmerzlich bewusst, dass ich nicht einmal Make-up trug, dass mein Gesicht glänzte und meine Haare strähnig wirkten. Dann glitt ich so unauffällig wie möglich zur Toilette hinüber, um wieder in mein Kleid zu schlüpfen. Als ich zurückkam, hatte Mickey die Tür zu seinem Büro geschlossen, was mich irgendwie störte. Doch bald war ich wieder in meine Arbeit versunken. Als ich den Blick hob, sah ich, wie er das Glas der Japanerin füllte. Dann ging ich nach Hause.
Am nächsten Morgen erwartete ich eine Kopfwäsche, statt
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