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Morgen früh, wenn Gott will

Morgen früh, wenn Gott will

Titel: Morgen früh, wenn Gott will Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claire Seeber
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Fragen auseinandersetzen. In meinem Kopf schwirrten alle möglichen Erklärungen durcheinander. Mickey musste aus beruflichen Gründen viel reisen, aber ich konnte mich nicht erinnern, ob er in jüngster Zeit eine Reise geplant hatte. Mein Kopf war wie ein großes, schmerzendes, schwarzes Loch.
    Mühelos schnurrte der große Wagen durch die verlassenen Straßen. Jeder vernünftige Mensch lag jetzt gemütlich im Bett, gerade in dieser stickigen Nacht. Wir umrundeten die betonierte Scheußlichkeit, welche die Westminster Bridge überragt, und fuhren dann über Waterloo Station wieder nach Süden. Auf einer Kreuzung stolperten unvermittelt zwei junge Mädchen auf die Straße, Inspector Silver trat auf die Bremse. Wir wurden nach vorn geschleudert, die beiden Teenies kicherten ob ihrer Kühnheit, offensichtlich betrunken. Um die Taille schimmerte ein Streifen weißer Haut im Licht der Straßenlaternen, Nabelpiercings glitzerten. Der Polizist biss die Zähne aufeinander.
    »So etwas Dämliches«, murmelte er. Ich lehnte meinen schmerzenden Kopf an das kalte Fensterglas und hörte dem Polizeifunk zu. Meine geschwollenen Brüste pochten schmerzhaft. Auf dem Vordersitz ließ Inspector Silver ein oberflächliches Räuspern hören.
    »Mrs Finnegan, ich weiß, dass Sie müde sind, doch ich muss Ihnen diese Fragen in Ihrem eigenen Interesse stellen. Ich brauche eine Aussage von Ihnen, während ich Sie nach Hause fahre.« Er sah mich im Rückspiegel an und hielt meinen Blick fest. Im Halbdunkel sahen seine Augen fast schwarz aus. »Bis Ihr Mann das Bewusstsein wiedererlangt, sind Sie unsere einzige Verbindung zu Ihrem Sohn.«
    Ruhig hielt ich seinem Blick stand. Ich wusste ja, dass er recht hatte. Gerade wollte ich ihm zustimmen, als zu meiner Linken die Silhouette der Tate Gallery ins Blickfeld kam.
    »Stopp!«, schrie ich, und er trat wieder auf die Bremse.
    »Zum Henker!«, fluchte Leigh, als sie den Kopf vom Armaturenbrett hob. »Das ist hier ja wie in einem verfluchten Autoscooter.«
    »Ich muss hier raus«, sagte ich und langte nach dem Griff.
    »Ist Ihnen schlecht?«
    Ungeduldig schüttelte ich den Kopf. »Nein, ich will nur dorthin.«
    »Wohin?«
    »Zur Tate Gallery. Ich hätte dort nie weggehen sollen.«
    »Jess, bitte, mach keinen Zirkus. Die Tate ist jetzt geschlossen«, sagte Leigh und drehte sich zu mir um.
    »Nicht in die Tate. Zum Fluss hinunter. Dorthin, wo man Mickey gefunden hat. Man hat ihn doch dort gefunden? Ich muss nachsehen, ob Louis nicht … Was ist, wenn er immer noch dort ist?«
    »Jess, warte! Du hast nur einen Pyjama an!« Doch ich hatte die Wagentür schon geöffnet, krabbelte heraus und lief über die Straße. Leighs Stimme wurde vom Geräusch eines Motorrads übertönt, das so nah an mir vorüberfuhr, dass ich den Fahrtwind über meine Wangen streifen und den Fahrer fluchen hörte. Doch ich war unverwundbar. Ich lief dorthin, wo ich heute schon einmal gewesen war, dorthin, wo ich meinen Sohn zuletzt gesehen hatte. Natürlich, das war das einzig Richtige! Warum war ich nur je weggegangen? Ich musste verrückt gewesen sein. Ich hätte dort bleiben sollen. Vielleicht hätte ich ihn gefunden. Ich ignorierte die Stimmen hinter mir, die Rufe. Ich lief und lief. Am geschlossenen Coffeeshop vorbei, durch die hohen, beschnittenen Hecken, bis ich am Fluss ankam.
    Dort hielt ich eine Sekunde inne und atmete die kalte Nachtluft ein. Von dieser Warte aus sah die Stadt, die sich am anderen Ufer abzeichnete, wunderbar aus, wie eine riesige Kirmes schimmerten ihre Lichter vor dem dunklen Nachthimmel. Irgendwo hier war Louis. Irgendwo hier in der Nähe …
    Ich spürte eine Hand auf meinem Arm, eine ruhige Stimme sprach mir ins Ohr, eine Stimme mit nördlichem Akzent. Da merkte ich erst, wie sehr ich zitterte.
    »Mrs Finnegan, ich kann Ihnen versichern, dass unsere Suchtrupps unterwegs sind. Sie drehen jeden Winkel der Stadt um. Von Louis ist hier keine Spur. Außerdem wurde Ihr Mann ohnehin nicht hier gefunden, sondern ein wenig weiter weg.« Er drehte mich um, sodass ich ihm ins Gesicht sehen musste, doch ich mied seinen Blick.
    »Wir sollten jetzt gehen, was meinen Sie?« Sanft fügte er hinzu: »Sonst holen Sie sich noch eine Erkältung. Lassen Sie sich von mir nach Hause bringen.«
    Ich krümmte mich. Ich konnte nicht mehr stehen, es nicht mehr durchstehen. In meinem ganzen Leben hatte ich mich noch nie so hilflos gefühlt. Jede Faser in meinem Körper schmerzte, jeder Teil meines Wesens schrie nach meinem

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