Morgen früh, wenn Gott will
sie mich an. »Warum nicht?«
»Darum nicht, Leigh.« Ich war mittlerweile so fertig, dass ich nicht einmal mehr mit ihr streiten konnte.
»Aber wir werden uns um dich kümmern. Du brauchst jetzt die Familie.«
Familie. Meine Familie hatte sich aufgelöst. Endlich hatte ich eine eigene Familie, eine, die in Ordnung war, nach all den Jahren – und nun war sie verschwunden. In einer Sekunde wie weggeblasen. Ich drehte mich um. »Ich fahre jetzt heim, und zwar sofort, wenn’s geht.«
Inspector Silver trank schnell die Diät-Coke aus, die er sich gerade aus dem Automaten gelassen hatte.
»Das ist Ihr gutes Recht«, meinte er milde, und Leigh warf ihm einen wütenden Blick zu. Am Ende hieß es, Gary würde zu den beiden Mädchen heimfahren, während Leigh mit mir käme. Ich huschte ein letztes Mal in Mickeys Zimmer. Doch während ich ihn ansah, kam mir immer wieder das Bild des Gekreuzigten unter. Und wer war ich dann, die ich hilflos zu seinen Füßen stand?
»Bitte, wach auf, Mickey.« Er bewegte sich nicht. »Ich verlier noch den Verstand. Und ich weiß nicht, was ich tun soll«, flüsterte ich. Dann küsste ich schnell seine Hand, seine zartgliedrigen langen Finger, die so schrecklich still lagen. Die Hand von Louis’ Vater. Die Knöchel waren aufgeschürft.
»Ich liebe dich«, flüsterte ich noch leiser. In der Krise konnte ich endlich sagen, was ich im Alltag immer für mich behalten hatte und was ich zu Anfang Tag für Tag mir zu hören gewünscht hätte, bis Mickey es in der Stille der Nacht endlich in mein Haar flüsterte, bevor ich Louis bekam, so leise, dass ich es fast für einen Traum gehalten hätte. Es hatte genügt – eine ganze Zeit lang.
Als ich zurückkam, flüsterten Leigh und Gary miteinander. Wie schuldbewusste Teenager sprangen sie auseinander. Die beiden waren ohne einander kaum vorstellbar.
»Danke, dass du gekommen bist, Gary«, brachte ich heraus. Er schüttelte seinen riesigen Schädel und sah mich an. »Rede keinen Unsinn, Liebes«, brummte er und nahm mich ungeschickt in den Arm. Dabei stieß er seinen Schädel nach vorne, sodass unsere Wangenknochen zusammenkrachten. Meine Familie war nicht an Liebesbezeigungen gewöhnt.
»Sollen wir?« Der Inspector namens Silver räusperte sich. Irgendwie glich er seinem Namen. Seine Haare schimmerten wie Pfeffer und Salz, und der schimmernde Anzug war entschieden zu teuer für einen Polizeibeamten. Kaugummi im breiten, schmallippigen Mund, leicht vorgewölbte Augäpfel.
»Das Auto steht dort, Mrs Finnegan, Mrs …?« Fragend sah er Leigh an.
»Mrs Hopkins«, antwortete sie, während sie mit einer entschiedenen Kopfbewegung das Haar aus dem Gesicht schleuderte. Ich wusste sofort, dass ihr der Aufstand peinlich war, den sie gerade eben gemacht hatte.
Schweigend warteten wir auf den Lift, ein düsteres Trio. Plötzlich kam mir ein Gedanke. Ich lief den Korridor zur Intensivstation zurück und achtete nicht auf die Stimmen, die hinter mir herschallten. Dieses Mal ging Schwester Kwame sofort an die Sprechanlage, als ich läutete. Sie öffnete und sah mich fragend an.
»Haben Sie etwas vergessen?«
»Nein«, sagte ich atemlos. »Es ist nur, ich habe mich gefragt …«, stotterte ich. »Hatte Mickey, hatte mein Mann etwas bei sich, als er hierherkam?« Was erhoffte ich mir davon? Ein milder Blick umfing mich.
»Eine Tasche vielleicht oder etwas anderes? Irgendetwas.« Hoffnungslos erstarb meine Stimme.
»Nichts, meine Liebe, ich glaube, nichts«, sagte sie. »Er hatte nur seine Kleider am Leib, soweit ich mich erinnere. Doch darum hat sich ohnehin die Polizei gekümmert, wissen Sie.«
»Oh.« Enttäuschung machte sich breit. »Nun ja. Danke.« Ich schwankte ein bisschen, als die Erschöpfung mit ihren gierigen Fingern nach mir griff. »Ich wollte nur … Sie wissen schon. Ich habe mich einfach nur gefragt. Bis später dann.« Als ich mich wieder zum Lift umdrehte, stand plötzlich Inspector Silver lautlos an meiner Seite.
»Warten Sie«, rief mir die Krankenschwester freundlich nach. »Er hatte tatsächlich etwas dabei. Ich dachte, ich hätte es der Polizei bereits gegeben, aber … Ich hole es.« Sie verschwand im Innern der Intensivstation.
»Alles in Ordnung?«, fragte Silver. Ich meinte, einen leicht nördlichen Einschlag in seiner Sprechweise zu hören. Steif nickte ich und versuchte mich an einem schwachen Lächeln, doch irgendwie schien mein Gesicht eingefroren. Da kam Schwester Kwame zurück. Sie händigte mir eine durchsichtige
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