Morgen ist der Tag nach gestern
hat sie Schmerzen.
Sie ruft ihn nicht. Wieso ruft sie ihn nicht?
Wieder hört er ihre Schritte auf dem Flur. Die Küchentür fällt ins Schloss.
Er steht oben, neben der Badezimmertür und lauscht. Irgendetwas stimmt nicht.
Er geht in sein Zimmer hinüber und tritt auf den Balkon. Er knetet seine Hände. Was hat sie denn? Mit großen Schritten geht er auf und ab. Wieso ruft sie ihn denn nicht? Er muss doch das Essen zubereiten. Sie hat doch Hunger. Sie will doch, dass er ihr was kocht. Er verschränkt die Arme und klemmt die flachen Hände unter die Achseln.
Vielleicht denkt sie, dass er nicht da ist. Ja, natürlich. Sie denkt, wenn er nicht in der Küche oder im Garten ist, dann ist er nicht da. Normalerweise duscht er ja auch um diese Zeit nicht.
Er läuft die Treppe hinunter. Vorsichtig öffnet er die Küchentür und steckt den Kopf hinein.
„Ah, du bist schon da. Ich habe dich gar nicht kommen hören.“
Sie sitzt auf dem Küchenstuhl direkt neben der Tür. Das kranke Bein liegt ausgestreckt auf der Eckbank. In der Linken hält sie ihre Krücke.
Er kann ihr Gesicht nicht sehen. Nur ihren rosafarbenen Schädel unter den toupierten blonden Haaren.
Sie antwortet nicht.
Vorsichtig betritt er die Küche. Vor ihr, auf dem Tisch, liegen seine Zeugnisse.
Er geht um ihren Stuhl herum. Er sieht wie sie die Krücke hochreißt.
Der Schlag trifft ihn an der rechten Hüfte. Der Schmerz zuckt wie eine Stichflamme bis ins Bein.
Er weicht zurück zur Spüle.
„Du Nichtsnutz von einem Sohn! Du gottverdammter Mistkerl! Seine eigene Mutter betrügen. Dass du die Faulheit von deinem Vater hast, das weiß ich ja inzwischen zur Genüge. Aber dass du auch noch ein Betrüger wirst, ein Betrüger wie er, das werde ich dir austreiben. Da kannst du aber Gift drauf nehmen.“
Ihre Stimme hat dieses schrille Fiepen in den i-Lauten. Die A’s überschlagen sich. Er hört Vahater, ahaber, ahauch dahas …
Er dreht ihr den Rücken zu und starrt vor sich hin. Er kann sie nicht ansehen. Nicht, wenn sie so ist.
Die aufgeplatzten Tomaten liegen in der Schüssel. Die Schüssel steht in der Spüle. Die Spüle ist in der Arbeitsfläche eingelassen. Die Arbeitsfläche ist auf den Unterschränken montiert, die Unter…
Wieder spürt er einen Schlag. Diesmal im Rücken.
„Hör mir zu! Ich will eine Erklärung. Hörst du? Wieso hast du keine Zeugnisse? Und eins kann ich dir sagen, wenn du nicht in den Kursen gewesen bist, dann will ich wissen wo du in der Zeit warst. Und ich will mein Geld zurück! Auf Heller und Pfennig.“
Die Unterschränke auf den Metallfüßen, die Metallfüße auf den Fliesen. Die Fliesen auf dem Betonboden. Der Betonboden auf der Kellerdecke, die Kellerdecke auf den Wä…
„Dreh dich gefälligst um“. Die Krücke fällt neben ihm krachend zu Boden.
Er dreht den Kopf und sieht sie neben sich auf dem Fliesenboden liegen. Er dreht sich langsam um. Er sieht sie freundlich, fast mitleidig an.
Dann wandert sein Blick wieder nach links auf den Fußboden. Zur Krücke.
Sie bricht in Tränen aus. „Sag mir, was du dir dabei gedacht hast. Und sag mir jetzt endlich die Wahrheit.“
Er bückt sich und hebt die Krücke auf. Er stützt sich darauf, so wie sie sich darauf zu stützen pflegt.
Sie sieht zu ihm herüber. Ihr Make-up ist zerlaufen. Die Tränen hinterlassen schwarze Rodelbahnen auf ihrem Gesicht.
Sie schlägt mit der Faust auf den Tisch.
„Lass das! Gib mir sofort meine Krücke zurück!“ Sie wirft ihm seine Zeugnisfälschungen entgegen.
Die Kellerdecke auf den Wänden. Die Wände auf dem Betonboden. Der Betonboden auf den Fundamenten. Die Fundamente …, die Fundamente …
Er gibt ihr die Krücke zurück.
Unter den Fundamenten das Erdreich.
Sie schimpft weiter. „Ich will, dass du dir was Eigenes suchst, hörst du? Ich will, dass du hier ausziehst. Wir können das Haus sowieso nicht halten. Ich kann die Hypotheken nicht mehr bezahlen.“
Er hebt die Zeugnisse auf und legt sie auf die Arbeitsfläche.
Die Arbeitsfläche auf den Unterschränken, die Unter…
„Wie meinst du das?“ Er sieht sie mit großen Augen an. „Welche Hypotheken?“
Sie lacht bitter auf. „Welche Hypotheken? Das kann ich dir genau sagen, mein Junge. Das Haus gehört mir nicht mehr, verstehst du. Das Haus gehört der Bank! Und das wäre nicht so weit gekommen, wenn du auch was zu unserer Ernährung beigetragen hättest. Stattdessen hast du mich hintergangen und das Geld für die Kurse für irgendwelche billigen
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