Morgen ist der Tag nach gestern
zu und spürt, dass es ihm egal ist.
Es ist wie vor zwei Jahren, als klar wurde, Miriam kommt nicht wieder.
So ist es auch jetzt. Denn jetzt sind Horstmann und Grefft tot und es gibt niemanden mehr, der weiß, wo sie liegt.
Es ist, als habe er sie ein zweites Mal verloren. Als habe er ein zweites Mal sein Versprechen gebrochen.
Am Schreibtisch zurück weiß er plötzlich, was ihn zurückhält, zum Ende der Geschichte zu kommen. Er muss von seinem endgültigen Versagen erzählen.
Als er den Füller aufnimmt, scheint er schwerer, als in den letzten Tagen. Er wiegt ihn mit ausgesteckter Hand. Es ist, als trüge er nicht nur die Tinte, sondern auch das Gewicht der noch zu schreibenden Worte in sich.
Auf dem Heimweg, ich hatte nicht bewusst darüber nachgedacht, entstand die Frage wie aus dem Nichts in meinem Kopf. Wieso spricht der türkisch? Und auch die Gegenfrage: Wieso nicht? Ich kaute über vier Kilometer daran herum, und dann wusste ich es wieder. Can Yildiz hatte gesagt, er wäre im Auftrag seines Bruders hier. Er hatte die entführten Mädchen aufgezählt. Die Namen, die Orte wo die Mädchen entführt worden waren. Und er hatte die Herkunftsländer der Väter genannt. Er hatte gesagt: Meine Nichte Saida. Syrien! Aber wie konnte sein Bruder Syrier sein und er Türke?
Yildiz war ein anderer. Yildiz verfolgte andere Ziele. Aber er würde mir die Möglichkeit verschaffen, Miriam zu finden. Und nur darum ging es. Nichts anderes war von Bedeutung
.
Und dann überschlugen sich die Ereignisse
.
Drei Tage hat er gebraucht, um sein Leben ohne Miriam aufzuzeichnen. Wozu? Für Miriam!
Erstaunt sieht er, dass Tropfen auf das Papier fallen, einzelne Buchstaben wässrig auseinanderlaufen. Dann erst zucken seine Schultern und er hört sich schluchzen.
Er hoffte immer noch. Nicht mit seinem Verstand, aber mit seiner Seele. So wie Hunde an einem Knochen nagen, haben die letzten zwei Jahre an seiner Seele genagt. Nichts ist übrig. Wenn er zurückblickt auf die Zeit davor, scheint sie ihm Lichtjahre entfernt. Ja, es ist, als würde er das Leben eines andern betrachten.
Er hat es nicht verstanden. Sein Verstand hat Fakten aneinandergereiht, logische Schlüsse gezogen, aber seine Seele hat es nicht verstanden.
Es gibt keinen Ort, an dem sie lebt und es gibt keinen Ort, an dem sie tot ist.
Er hat sie nicht gefunden!
Und plötzlich weiß er, warum er seit Stunden spürt, dass dies sein letzter Tag sein wird. Er hat es beschlossen!
Er sitzt hier und schreibt seiner Tochter einen Bericht über seine Suche. Er schreibt es auf, damit sie es lesen kann. Das ist das einzige, wovon er sich nicht trennen kann. Von der Hoffnung, dass sie davon erfährt.
43
Joop ist mit zu Böhm gefahren. Steeg hat versprochen, sie zu informieren, falls sich etwas Neues ergibt. Er sitzt an Böhms Schreibtisch, Sabine Ecks ihm gegenüber. Die Stiftungsaufzeichnungen des Jahres 2001 umfassen fünf dicke Aktenordner. Sie sammeln Namen und Adressen der Familien, die Leistungen der Stiftung erhalten haben.
Sabine gibt die Namen, die er aufschreibt und ihr über den Tisch zuschiebt, in ihr Notebook ein und gleicht sie mit der Datei „Vermisste Personen und unbekannte Tote“ des BKA ab.
Die Datei ist ständig in Bewegung. Bis zu dreihundert Einträge und Löschungen werden hier täglich vorgenommen. Dreißigtausend Menschen verschwinden jährlich in Deutschland. Die meisten nur kurzfristig.
Als Steeg den letzten Ordner schließt, hat er eine Liste von achtzehn Namen zusammengestellt. Er lehnt sich zurück und lässt ein zufriedenes Stöhnen hören.
„So. Ich denke, Sie brauchen noch ein Weilchen, richtig?“ Er zieht die Augenbrauen hoch und sieht sie an.
Sie nickt. „Ja, ich habe hier eine interessante Geschichte aus Sonsbeck. Das ist doch hier in der Nähe, oder?“
„Nicht unsere Baustelle, falls sie das meinen. Gehört zum Kreis Wesel. Stehen die Zuständigkeiten nicht in den Dateien?“
„Ich hatte nicht nach der Zuständigkeit gefragt, sondern wie weit Sonsbeck entfernt ist!“ Sie sieht ihn direkt an. Sie mag ihn nicht. Sie mag seine Art nicht, sie wie eine bessere Sekretärin zu behandeln. Die Art, wie er ihr die Zettel mit den Namen zuschiebt. Und jetzt auch noch diese blöde Bemerkung.
Er weicht ihrem Blick aus. Er mag sie nicht. Er mag ihre Art nicht, ihn wie einen Bullen zweiter Klasse zu behandeln. Die Art, wie sie wichtig auf den Tasten ihres Laptops rumhämmert. Und jetzt auch noch dieser blöde Spruch.
Er steht auf und
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