Morgen ist ein neuer Tag
gegen die erste Stufe einer breiten Holztreppe. Oben knipste jetzt jemand die Treppenbeleuchtung an. Fritz Bergschulte schaute empor. Vier Treppen hoch, Witwe Hermine Bornemann. Unter dem Dach. Schräge Wände und ein Fenster direkt zu den Sternen. Im Winter würde der Schnee dick auf dem Fensterbrett liegen und die einzige Rettung ein kleiner Kanonenofen in der Ecke sein. Und das alles für fünfundfünfzig Mark einschließlich Licht und wöchentlich einmal baden. Zimmer mit Komfort.
Fritz Bergschulte stieg die Treppen empor.
Erster Stock – zweiter Stock – dritter Stock.
Oben, am Ende des Treppenabsatzes zum vierten Stock stand eine Gestalt.
Alt, gebeugt, mit weißen Haaren, mütterlich. Die runzeligen Hände vor einer großblumigen Kittelschürze.
In diesem Augenblick wußte Fritz Bergschulte, daß er das Zimmer nehmen würde.
3
Die Morgendämmerung kroch durch das schräge Fenster, so daß die alten Möbel aus dem Dunkel der vergangenen Nacht herauszuwachsen begannen. Da war an der Innenwand ein breites, langes Bett mit einem mit blumigem Stoff überzogenen Plumeau, ein Waschtisch mit Steingutschüssel und großer Wasserkanne, ein runder, etwas wackeliger Tisch mit einem abgewetzten Ledersofa dahinter, zwei Stühle mit fehlerhaftem Rohrgeflecht, eine ziemlich altersschwache Anrichte neben der Tür, und in der Mitte des Raumes ein Kokosteppich, dessen losen Fasern keine besonders energischen Säuberungsmaßnahmen mehr zuzumuten waren. Ein kleiner Blumenständer mit sieben stacheligen und verkümmerten Kakteen stand fremd und ohne Beziehung zum Raum neben dem Fenster. Frau Witwe Bornemann betonte lebhaft, daß dies eine ›Pfandsache‹ des Vorgängers in diesem Zimmer sei, der seine Miete nicht bezahlt hatte und dafür diese Kakteen hatte zurücklassen müssen. Sie ständen zwar in keinem Verhältnis zu der schuldig gebliebenen Miete, aber – Frau Bornemann hob den runzeligen Zeigefinger – Strafe muß eben sein, und wenn es sich um Kakteen handelte, von denen sie nichts hatte.
Fritz Bergschulte lag noch im Bett und räkelte sich, als es dämmerte und die Konturen des Kirchturmes, der fast greifbar nahe schien, vor dem Hintergrund des bleigrauen Himmels immer deutlicher wurden. Außerdem begannen jetzt auch die Glocken zu läuten – eine schwere, wuchtige Glocke mit einem dumpfen Schlag und zwei kleinere, hellere, die zusammen einen weichen Dreiklang ergaben, der schwerelos über die Stadt hinschwebte. Der Mann im geblümten Bett rieb sich die Augen und drückte das Plumeau zur Seite. Mit Schwung warf er seine langen knochigen Beine über den Rand des Bettes und setzte sich auf, fuhr sich mit den Händen durch die stoppeligen Haare, die sich nach der Sträflingsrasur in Rußland wie eine Bürste anfühlten, und schaute hinaus auf den Kirchturm.
Heute ist ja Sonntag, dachte er. Mein Gott, der erste Sonntag in Deutschland. Wie schön, wie herrlich hätte er sein können. Wie wundervoll hatte er ihn sich ausgemalt in den russischen kalten Nächten unter seinen drei Filzdecken. Lina würde neben mir liegen, hatte er gedacht, glücklich, lächelnd, und sie würde den weichen Arm um mich schlingen und sich eng an mich schmiegen. Ihre Locken würden mein Gesicht kitzeln und ihre Finger würden mit den Haaren auf meiner Brust spielen, wie sie es immer getan hatte, ehe sie ganz lieb zu ihm gewesen war. Und Peter, der Lausejunge, würde oft ins Bett springen und den Vater kitzeln, mit ihm balgen, daß die Kissen und Decken durch das Zimmer fliegen würden, bis Lina sie beide an den Ohren nehmen und ihnen eine Strafpredigt halten würde. Um 10 Uhr würde man dann am Kaffeetisch sitzen, knackende Brötchen, Butter, Honig und Wurst vor sich, würde dampfenden Bohnenkaffee trinken und die flotte Musik aus dem Radio hören, während draußen im Garten die Sonne auf die Blumenbeete scheinen und die Pracht der Farben bis fast in das Zimmer leuchten würde. So richtig gemütlich würde das sein, so bieder-bürgerlich – aber war das nicht das Leben, das lohnte, gelebt zu werden? War das nicht das Glück des kleinen Mannes – eine liebe Frau, ein frischer Junge, ein nettes Häuschen, ein schöner Garten und so richtig behagliche Gemütlichkeit mit Filzpantoffeln, Kaffeewärmer und Morgenzeitung? Was wollte man denn auch mehr von diesem Leben? Arbeit gab es genug, Ärger stellte sich von selbst ein – und das Herz kannte ja in dem Getriebe der Maschinen und dem Lärm der Straße nur eine Sehnsucht: Ruhe, eine stille
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