Morgen ist ein neuer Tag
ihrer Konstruktionen, und es war schwer, aus der Fülle der verschiedenen Vorzüge den Wagen herauszusuchen, der nicht nur elegant, sondern auch leistungsfähig und gut genug war.
Dr. Schrader sortierte die Post.
Prospekte links. Gerichtssachen rechts. Privatpost in die Mitte. Klientenbriefe hatten Vorrang. Sie mußten zuerst geöffnet werden, denn Klienten bringen Geld.
Voller Verwunderung sah er auf den Absender eines Briefes, der ihm gleich anfangs in die Hände geriet:
Fritz Bergschulte. Dortmund. Postlagernd Hauptpost.
Nanu? dachte Dr. Schrader. In Dortmund?
Er schlitzte mit seinem dolchähnlichen Brieföffner das Kuvert auf und entnahm diesem den kurzen, mit einer wie gehetzt wirkenden Schrift bedeckten Bogen.
Der Brief lautete:
»Sehr geehrter Herr Dr. Schrader! Infolge von Umständen, die ich Ihnen schriftlich nicht näher erklären kann, möchte ich Sie bitten, den Termin zur Ungültigkeitserklärung der Ehe meiner Frau mit Herrn Korngold nicht mehr weiterzuverfolgen und lediglich die Aufhebung der Todeserklärung zu betreiben. Ich verzichte auf eine Rückkehr meiner Frau zu mir und möchte Sie bitten, es bei der jetzigen Situation zu belassen. Durch Vorkommnisse während meiner Abwesenheit von Minden ist es mir unmöglich geworden, das alte Leben wiederaufzunehmen, und je mehr ich jetzt Abstand von den Dingen bekomme und mich wieder in die Zivilisation einzuleben beginne, erkenne ich, daß die Vergangenheit tot ist und nicht mehr wiedererweckt werden soll. Und deshalb möchte ich auch durch nichts mehr an meine Vergangenheit, zu der auch meine Frau zählt, erinnert werden. Ich bitte Sie, in dem o.a. Sinne zu verfahren und beim Gericht eine Absetzung des Verfahrens gegen Herrn Korngold zu erwirken. Mit vorzüglicher Hochachtung Fritz Bergschulte.«
Dr. Schrader mußte den Brief zweimal lesen, ehe er die ganze Ungeheuerlichkeit dieses Schreibens begriff. Dann aber hieb er mit der Faust auf den Tisch und warf den Brief auf den Stapel Prospekte.
Bergschulte zog seine Klage zurück! Der Mann mußte verrückt sein oder – Dr. Schrader dachte an den berühmten Satz Napoleons, der die Erfahrung von Jahrhunderten in sich barg und sogar auf vieles in der großen Weltgeschichte hinwies: Cherchez la femme! Sucht die Frau – das war es! Da hatte dieser Bergschulte in Dortmund sicher ein Mädel kennengelernt und in seiner Verblendung, in seinem über zwölf Jahre angestauten Trieb vergaß er nun alles, was ihn überhaupt zurück in die Heimat gezogen hatte. Er stieß die Frau zurück, die sich zu ihm bekannte, er ließ einen Lumpen ungeschoren, der ihm sein Leben gestohlen hatte, er dachte nicht mehr an seinen Sohn – er wurde in den Händen einer anderen Frau selbst zu einem Lumpen, der sich aus der Verantwortung stehlen wollte, indem er einfach untertauchte und für immer in Dortmund verschwand. Das hätte er dann gleich sagen sollen, nicht erst, nachdem er Lina veranlaßt hatte, die Brücken hinter sich abzubrechen.
Eine ungeheure Wut packte Dr. Schrader.
Ich fahre nach Dortmund und lauere ihm an der Hauptpost auf, war sein erster Impuls.
Und wenn er dann vor mir steht, wenn er mir erklären will, daß jetzt, da er zwei Lippen küßte und in weichen Armen lag, alles anders aussieht als vorher, wenn er sich weigert, diesen wahnsinnigen Brief zu widerrufen, dann werde ich ihm vor allen Leuten eine Ohrfeige geben und meine ganze Verachtung in diesen ersten und einzigen Schlag meines Lebens legen.
Doch dann, als die Wut, die nie ein guter Ratgeber ist, verrauchte und der nüchterne Verstand wieder die Oberhand gewann, rief er die Sekretärin und diktierte ihr ein Antwortschreiben. Der Brief war klar und kühl und ließ keine Zweifel aufkommen über die wahre Gesinnung, die er ausdrücken sollte:
»Sehr geehrter Herr Bergschulte! Ihr Schreiben habe ich erhalten. Was Sie dazu bewegen hat, Ihre Ansichten zu ändern, weiß ich nicht und will es auch nicht wissen. Ich bedauere jedenfalls, Ihrer Bitte nicht nachkommen zu können, da die Akten und Unterlagen schon der Staatsanwaltschaft vorliegen und dies nicht mehr rückgängig gemacht werden kann. Die Staatsanwaltschaft würde auch von sich aus Anklage gegen Korngold erheben, da es sich um Offizialdelikte desselben handelt, und nicht um Antragsdelikte. Zudem ist Ihre Haltung menschlich völlig unverständlich, und es wäre angebracht, Ihre Haltung wieder zu korrigieren, um nicht in die Gefahr zu geraten, mit Ihrem Prozeßgegner auf eine Stufe in moralischer
Weitere Kostenlose Bücher