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Morgen letzter Tag!

Morgen letzter Tag!

Titel: Morgen letzter Tag! Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C Süß
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aus.
    Diese Wahrheit, dass die Geschichte ein Zweig der deutlich später entstandenen Soziologie ist, sozusagen eine Soziologie des Vergangenen, diese Wahrheit hat mit der Erfindung der Atombombe und vor allem nach dem darauffolgenden Wettrüsten deutlich an Gültigkeit verloren. Im Kalten Krieg bestimmten tatsächlich Einzelne das Geschick der Menschheit. Und da wiederum nicht unbedingt einzelne Diplomaten, Militärs, Wissenschaftler oder Politiker, an die man zunächst denken könnte, sondern eben einzelne, mitunter subalterne Entscheidungsträger, die mehrmals im Verlauf des Kalten Kriegs einen atomaren Schlagabtausch verhindert hatten. Deswegen sollten wir alle bei der Nennung des Namens Oberstleutnant Stanislaw Petrow in religiöse Verzückung geraten, hatte er uns doch, mehr als sämtliche Heilsbringer aller Religionen der Welt zusammen, wahrhaft errettet.
    Aber nix ist mit Verzückung. Bei der Nennung dieses Namens gibt es bei den meisten nur eine Zuckung, nämlich der Schultern. Dabei ist der Oberstleutnant ein wahrer Held. Am frühen Morgen des 26 . September 1983 war er der verantwortliche Offizier, als der neue Oko-Satellit meldete, eine amerikanische Minuteman-Interkontinentalrakete befände sich auf dem Weg in sowjetisches Hoheitsgebiet. An sich stand in seiner Stellenbeschreibung, er hätte, einem vorab ausführlich diskutierten Mechanismus der wechselseitigen Annihilierung folgend, den Dritten Weltkrieg auslösen müssen, indem er seinerseits den Abschussbefehl für Interkontinentalraketen auslöste. Das aber tat er nicht. Trotz der bestimmt nicht unbeträchtlichen Stresssituation, in der er sich befand, konnte seine Vernunft noch mit folgender Frage in das Bewusstsein des Oberstleutnants eindringen: Wenn die Amerikaner einen Erstschlag führen würden, würden sie dann nur eine einzige Rakete abschießen?
    Wohl eher nicht, folgerte er richtig.
    Also beschloss er, die Meldung des Satelliten sei auf eine Funktionsstörung zurückzuführen. Und so war es auch. Das Oko-Satellitensystem war offenbar gegen Strahlung von der Erde unzureichend geschützt, die Daten deswegen unzuverlässig. Hätte Herr Petrow einfach nur das gemacht, was man ihm beigebracht hatte, wären wir alle tot beziehungsweise die Jüngeren unter uns nicht geboren.
    Bei anderen Gelegenheiten löste ein streunender Bär fast den Atomkrieg aus, oder 1979 eine Computersimulation, die dummerweise eine Zeit lang für echt gehalten wurde. Man könnte eine ganze Historie der Beinahe-Apokalypsen schreiben. Die Tatsache, dass wir alle noch im Dasein sind, ist also im Wesentlichen dem Zufall zu verdanken. Und einzelnen Mitmenschen mit funktionsfähigem Verstand wie Oberstleutnant Petrow. Aber andersherum betrachtet kann man freilich auch sagen: Noch nie waren die Entscheidungen von Individuen von solcher Tragweite für das Gesamtschicksal der Menschheit, noch nie waren Einzelne so mächtig.
    Aber es ist dennoch richtig, dass wir noch da sind. Optimisten werden sagen, da hatte der Weltgeist wohl immer wieder in entscheidenden Momenten eingegriffen. Oder man kann auch sagen, das Gleichgewicht des Schreckens hat funktioniert. Gut, es war wohl ein paar Mal richtig knapp, aber die atomare Vernichtung ist ausgeblieben. Und nicht nur das, wir hatten in Europa seit 1945 bislang nur einen Krieg. Insgesamt gab es grausame Stellvertreterkriege ohne Unterlass. Aber der große ist ausgeblieben. Ohne Atombombe hätte der Dritte Weltkrieg wohl nicht lange auf sich warten lassen. Aber da beiden Parteien immer bewusst war, dass sie, wenn sie losschießen, einen Mechanismus in Gang setzen, den sie nicht mehr aufhalten können und der vermutlich zur totalen Auslöschung führt, haben sie es tatsächlich gelassen. Freilich kein Grund zur Gelassenheit für uns. Denn das bedeutet selbstverständlich, dass die atomare Gefahr seit dem Zusammenbruch des Ostblocks in den 90 ern viel größer geworden ist. Jetzt könnte man doch wieder. Immerhin löst man doch jetzt keinen weltzerstörenden Mechanismus der Vergeltung mehr aus? Aber auch da haben wir bislang noch Glück gehabt.
    Und das ist das Letzte und Wichtigste, was wir lernen: Die Geschichte hängt immer vom Zufall ab. Von Glück oder Pech– wie man’s nimmt. Vom Glück oder Unglück wissenschaftlicher Erkenntnis, von den glücklich oder unglücklich agierenden Politikern. Von zufälligen Begebenheiten, die manchmal das Schlimmste verhindern. Manchmal nicht. Mit der Möglichkeit ihrer Vernichtung ist uns

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