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Morgen trauert Oxford

Morgen trauert Oxford

Titel: Morgen trauert Oxford Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Veronica Stallwood
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gespenstischen Weiß.

    Maria tauchte die Feder ein und setzte den Brief an ihre Schwester fort.

    Heute las ich in der Zeitung von einem Zwischenfall , der unseren lieben Freund Mr Tringham sicherlich interessiert hätte , auch wenn solche Ereignisse in London bestimmt häufiger vorkommen . Hier in Oxford jedoch scheinen die Kriminellen über weniger Fantasie zu verfügen , vielleicht sind sie aber auch einfach nur weniger boshaft . Bei dem Vorfall , über den ich heute Morgen las , hat man ein unschuldiges Kind seiner sämtlichen Kleider beraubt . Ich glaube , man nennt so etwas » häuten «. Ein kleines Kind , dessen Kindermädchen sich mit einer Freundin unterhielt und kurz abgelenkt war , wurde von zwei verderbten Frauen gepackt , vollständig ausgezogen und splitternackt zu seiner äußerst besorgten Familie zurückgeschickt .

    Nelly würde sich freuen, wenn sie in Frankreich die neuesten Nachrichten aus Oxford lesen konnte. Wahrscheinlich war sie sehr einsam dort in diesem fremden Land, abgeschnitten von jeglicher Gesellschaft.

    Auf dem Rückweg zu ihrem Haus versuchte Dime zu begreifen, was passiert war. Es war jetzt einige Monate her, seit sie Angel gefunden und in die Familie aufgenommen hatten; inzwischen versuchte er erst gar nicht mehr, sie zu verstehen. Genau wie die anderen Familienmitglieder ging er ganz selbstverständlich davon aus, dass Angel nicht ganz richtig im Kopf war. Sicher würde sie im Lauf der Zeit Fortschritte machen und sich an die Familie und ihre darin vorgesehene Rolle gewöhnen. Dime glaubte, diese Rolle zu kennen. Er kannte sie seit dem Tag, als sie Angel gefunden hatten. Es war in London gewesen. Sie wohnten damals in einem netten Haus in Notting Hill und arbeiteten im West End. An einem milden, regnerischen Tag im März waren sie zu dritt unterwegs gewesen, um Coffin an der U-Bahn-Station zu treffen. Ant wollte die Einnahmen zur Bank bringen, und Gren sollte die Schicht übernehmen. Dime begleitete Ant, um alles Wissenswerte über das Geschäft zu lernen.
    Ant redete ununterbrochen. Es war, als ob er eine Rede hielt, dachte Dime. Im Gehen schwankte Ants Kopf von einer Seite zur anderen. Gren ging dicht neben ihm. Ihre Schultern berührten sich. Gren verstand jedes Wort, das Ant sprach. Dime jedoch, der einen Schritt hinterhertrödelte, hörte nur die wenigen Worte, die über Ants Schulter drangen, wenn er den Kopf in seine Richtung bewegte.
    Ants Stimme trieb durch den feinen Nieselregen zu Dime hinüber. Feuchtigkeit lag wie ein öliger Film auf Haut und Haaren und schien Ants Worte wie Löschpapier aufzusaugen.
    Ant und Gren waren so in ihr Gespräch vertieft, dass sie das Mädchen nicht bemerkten. Dime sah sie als Erster. Zumindest behauptete er es seither. »Ich habe sie gefunden«, erzählte er Coffin. »Ich habe sie als Erster gesehen, also habe ich sie gefunden. Was ich finde, bleibt stets mein. Richtig?«
    »Wenn du es sagst«, brummte Coffin. »Was ich finde, bleibt stets mein. Aber vergiss nicht: Verlierer müssen traurig sein.«
    Coffin antwortete oft in Reimen, und Dime wusste nie so recht, wie er es meinte. Er war eben ein witziger Typ, dieser Coffin. Vielleicht kam es daher, dass er Ire war. Das behauptete er wenigstens. Für Dime allerdings klang sein Dialekt nach reinstem London.

    »Ich muss unbedingt nach Leicester«, sagte das Mädchen und setzte sich unversehens auf den schmutzigen Betonboden. Sie hatten gerade einmal die drittunterste Stufe der ersten Treppe zur U-Bahn-Station erreicht, und es sah nicht so aus, als würden sie an diesem Tag noch viel weiter kommen.
    »Ant! Ant, sieh doch mal!« Dime zerrte an Ants Ärmel und wünschte sich sehnlichst, er würde mit seinem Redefluss aufhören und endlich merken, was in der wirklichen Welt vor sich ging. Widerstrebend drehte Ant sich um und betrachtete das Mädchen.
    »Alles in Ordnung mit dir?«, fragte er.
    »Ich sagte, ich muss unbedingt nach Leicester.« Es klang, als hätte sie diesen Satz schon tausend Mal wiederholt, ohne dass jemand hingehört hatte.
    »Leicester? Du spinnst. Bestimmt meinst du Leicester Square«, sagte Ant. Er blickte auf den Müllberg zu seinen Füßen. »Du bist schon da, Süße. Tu mir den Gefallen und steh auf. Der Boden hier ist ekelhaft schmutzig.« Er berührte sie mit der Fußspitze. Sie trat nach ihm und packte ihn am Knöchel.
    »Sie hat nicht alle Tassen im Schrank«, meinte Gren. »Lass sie in Frieden.«
    Plötzlich schlug das Mädchen die Augen auf. Sie waren sehr blau,

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