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Morgen trauert Oxford

Morgen trauert Oxford

Titel: Morgen trauert Oxford Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Veronica Stallwood
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etwas zu langen Haar, den hellgrauen Augen und der langen Nase. Eines Tages war er ins Zimmer gekommen und hatte sich neben das Bett gestellt, so, dass sie ihn endlich einmal ganz sehen konnte – oder zumindest von den Knien an aufwärts. Die Ärmel seines schwarzen T-Shirts hatte er entfernt. Seine Schultern staken aus zerfransten Ärmellöchern. Das T-Shirt hatte er in den Bund seiner Jeans gestopft. Er trug einen schwarzen Ledergürtel mit einer auffälligen Messingschließe. Die Jeans waren alt; der weiche Stoff hatte sich dem Körper so angepasst, dass er für immer dessen Konturen bewahren würde.
    Sie findet ihn netter als Dime, aber er strahlt nicht Coffins Ruhe aus. Coffin besucht sie häufig. Er redet kaum; meist setzt er sich ans Fenster und spielt auf seiner Flöte. Sie findet darin einen seltsamen Trost. Die Flötenklänge legen sich wie wärmende Decken um ihre Seele. Vielleicht fühlt sich so die Liebe an.
    »Erinnerst du dich schon an etwas?«, fragte Ant. Sein Mund sah aus wie ein langer, schmaler Schlitz. Die blassen Ohren zeichneten sich durch sehr lange Ohrläppchen aus. Er trug einen Ohrring mit einem glitzernden Stein; vielleicht ein Diamant oder ein geschliffener Kristall.
    »Nein«, gab sie zurück. »Ich kann mich an nichts erinnern. Wie bin ich überhaupt hier hergekommen?« Wo auch immer dieses hier sein mochte.
    »Wir wohnen hier«, sagte Ant. »Betrachte dich als unseren Gast.« Er lächelte sie an. Es war jedoch nur sein Mund, der sich bewegte, nicht seine Augen. »Im Augenblick bist du unser Gast. Aber eines Tages wirst du eine von uns werden. Ein Familien-Mitglied. Irgendwann erkläre ich dir, was das bedeutet.«
    »Warum nennt ihr mich Angel?«
    »Kannst du dich an deinen früheren Namen erinnern?«
    »Nein.« Nur der andere Name war ihr im Gedächtnis geblieben.
    Ant begann zu deklamieren: »Madame Leben steigt herab mit einer Blütenschleppe, der Tod drückt sich herum in jedem Winkel, doch ihm gehört die Welt mit ihrem Dünkel, er ist der Rüpel auf der Treppe.’«
    Das Zitat kam Angel irgendwie bekannt vor, doch sie hatte den Eindruck, dass Ant die Worte ein wenig verändert hatte.
    »Wir haben dich auf der Treppe zur U-Bahn-Station Leicester Square gefunden«, erklärte Ant. »Und du hast wie ein echter kleiner Rüpel ausgesehen. Du bist also unser Rüpel auf der Treppe. Und weißt du, wer dieser Rüpel ist?«
    »Nein.« Die Frage war viel zu kompliziert.
    »Er ist der Todesengel. Deshalb habe ich dich Angel, also Engel, genannt.«
    Angel lächelte. Ant hatte ja keine Ahnung, wie passend dieser Name war! Sie erinnerte sich noch sehr gut an das Lied, das Coffin an diesem Tag gespielt hatte: »She Moved through the Fair«. Auch darin ging es um Tod, Geister und Spuk.
    »Werde jetzt erst mal gesund. Wir haben nämlich Pläne mit dir.«
    Sie nickte. Gut, dass es jemanden gab, der einen Plan hatte. Sie selbst fühlte sich nicht in der Lage dazu. Sie schaffte es nicht einmal, eine Entscheidung zu treffen.
    Plötzlich schien er eine Art Mitleid zu empfinden, denn er setzte hinzu: »Wir sind hier übrigens in Devon.« Und noch ehe sie etwas dazu sagen konnte, fuhr er fort: »Wo stammst du eigentlich her?«
    »London«, platzte es aus ihr heraus. Ehe sie den Namen aussprach, hatte sie es selbst nicht gewusst.
    »Gut«, nickte Ant. »Und dein Nachname?« Sie schüttelte den Kopf. Ihr Name war jetzt Angel. Sie war der Rüpel auf der Treppe.
    Dass sie sich an den anderen Namen erinnerte, behielt sie für sich. Olivia Blacket. Doch das ging ihn nichts an.

    Heute scheint die Sonne. Es ist fast zwei Uhr nachmittags, und die Schatten sind kurz. Der Hügel scheint sich zurückzulehnen. Büsche und Bäume heben sich wie ulkig verteilte Nasen und Ohren oder pelzige Flecken vom Gras ab. Das Grün stuft sich in verschiedene Töne ab: vom geriffelten Smaragdgrün des Grases bis hin zu den rostig überhauchten Grüntönen der Bäume weiter oben. Kurz zuvor hatte sie noch neun Kühe gezählt, doch inzwischen waren sie alle verschwunden. Allmählich lernt sie, die Kühe in Größe und Farbe zu unterscheiden, und kann erkennen, welche gerade fehlen. Inzwischen fühlt sie sich nicht mehr so verloren, wenn sie eine oder mehrere Kühe vermisst. Sie weiß, dass sie wiederkommen.
    Außer Gänseblümchen, Butterblumen und dem violetten Rhododendron am Bach sieht sie kleine rosa Rosen, die über ein graues Steintor ranken. Sie schnuppert. Fast glaubt sie, ihren Duft erkennen zu können, obwohl es im ganzen

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