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Morgen trauert Oxford

Morgen trauert Oxford

Titel: Morgen trauert Oxford Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Veronica Stallwood
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wieder.
    Sie erinnerte sich an ihr Leben auf der Straße. Es machte überhaupt keinen Spaß, bei Regen auf dem vor Nässe und Schmutz glänzenden Bürgersteig herumzusitzen und bis auf die Haut durchweicht zu werden. Jedes Blatt und jeder Grashalm weinte winzige, salzfreie Tränen. Auch sie sollte eigentlich weinen, aber sie konnte nicht. Wenn sie geweint hätte, hätte sie sich erinnern müssen, warum sie es tat. Doch das wollte sie um keinen Preis. Sie sah zu, wie der Regen stärker wurde und in dicken Tropfen am Fenster hinunterlief. Die Aussicht auf den Hügel verschwamm.
    Nebenan übte Coffin das Stück »Greensleeves«.

    Einer von ihnen kam ins Zimmer. Allmählich erkannte sie die einzelnen Individuen. Sie waren zu dritt, vielleicht auch zu viert. Den, der jetzt kam, mochte sie am wenigsten: Es war der mit dem roten Gesicht und den Pickeln, der nur sehr langsam verstand, wenn sie mit ihm sprach. Gestern hatte er ihr gesagt, dass er Dime hieß. Ihren Namen hatte sie ihm nicht verraten, denn er gehörte zu den Dingen, an die sie sich nicht erinnern wollte. Dime hatte sie Angel genannt. Er trug immer noch das rot-weiß karierte Hemd, in dem sie ihn zum ersten Mal gesehen hatte. Zwar hatte er offenbar kürzlich ein Bad genommen, aber seine Kleider rochen nach altem Essen.
    Er setzte sich zu ihr ans Bett, lächelte sie an und redete ununterbrochen. Über die Familie. Dass sie nur immer zusammenhalten müssten und dass sie eines Tages sehr reich werden würden.
    Nebenan spielte Coffin »Bridge over Troubled Water«.

    Eines Tages steht sie auf und geht bis zum Fenster. Das Fenster ist nicht sehr groß, das Glas ziemlich schmutzig und obendrein nicht ganz regelmäßig. Die Sicht nach draußen wirkt ein wenig verzerrt, als blicke man durch sanft gekräuseltes Wasser. Vor dem Haus fällt das Gelände steil ab. Am Fuß des Hangs steht eine Baumreihe – es sind ziemlich hohe Bäume. Bis auf eine Birke in der Mitte erkennt sie die Bäume nicht. Weiter unten hört sie das Gurgeln und Plätschern von Wasser. Vielleicht fließt dort ein Bach, der sich ihren Blicken entzieht. Wenn sie eines Tages wieder zu Kräften gekommen ist, wird sie nachschauen gehen. Sie fühlt sich schon viel kräftiger als letzte Woche – oder war es letztes Jahr? Sicher ist sie bald so weit hergestellt, dass sie hinausgehen und den Bach suchen kann. Dann zieht sie die Schuhe aus und watet durch das braune Wasser. »Schau nur, Daisy«, ruft sie. »Schau nur, ich wate durch den Bach!« Warum antwortet Daisy nicht?
    Rechts von der Birke erkennt sie einen violetten Klecks. Wilder Rhododendron. Heute sind mehr Kühe da. Elf Stück. Eine komische Zahl. Es müssten zehn oder zwölf sein. Doch vielleicht versteckt sich eine hinter einem Baum oder ist nach links aus dem Blickfeld verschwunden wie Daisy. Sie ist zu müde, um darüber nachzudenken. Dennoch wünscht sie sich, dass entweder die fehlende Kuh auftaucht und das Dutzend vervollständigt oder dass eine der vorhandenen Kühe weggeht und ihr eine runde Zehn gönnt.
    Im Lauf des Morgens wird der Regen heftiger. Hinter dem Zaun aus Wasser erscheint der Hügel deutlich näher. Sie kann plötzlich Einzelheiten an Büschen und Bäumen erkennen und sieht Linien im Gras, die sich wie eine Kontur parallel zur Baumreihe hinziehen. Der Himmel ist von einem gleichmäßigen Perlgrau; sie kann die Himmelsrichtung nicht bestimmen. Wasser tropft von allen Blättern.
    Coffin kommt ins Zimmer. Er sagt nichts, sondern setzt sich im Schneidersitz vor dem Fenster auf den Boden, nimmt eine seiner Flöten aus dem mit Samt ausgeschlagenen Instrumentenkoffer und beginnt zu spielen. An diesem Morgen ist es »Green Fields of France«. Als er fertig ist, lächelt er ihr zu. Sie bemüht sich, sein Lächeln zu erwidern.

    Rechts vom Fenster steht eine Eiche. Ein Ast hängt genau in ihrem Blickfeld, und sie erkennt die Blätter. Eiche . Etwas, woran man sich klammern kann. Etwas, das sie weiß. Sie scheint nur sehr wenig zu wissen; in der Hauptsache Dinge, die Ant ihr gesagt hat. Es gibt etwas, das sie Ant nicht erzählt hat. Sie lächelt. Es ist ihr Geheimnis, ein winziger Fleck Erinnerung, der ihr ganz allein gehört. Und es ist ganz einfach. Zwei Worte. Ein Name. Und wenn sie alles andere vergäße – an diesen Namen würde sie sich ihr Leben lang erinnern. Und eines Tages … Doch der Gedanke daran, was sie an diesem Tag wird tun müssen, ist ihr noch zu viel.
    Ant, das ist der Große mit dem dünnen, glatten, dunklen und

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