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Morgen trauert Oxford

Morgen trauert Oxford

Titel: Morgen trauert Oxford Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Veronica Stallwood
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unterbrach sie nicht. Sie spürte, dass das Reden einen therapeutischen Effekt auf Angel ausübte, und ihr schien, dass Angel einer Therapie bitter bedurfte.

    »Sie fanden mich an der U-Bahn-Station Leicester Square«, sagte Angel. »Daran erinnere ich mich zwar nicht, aber sie haben es mir später erzählt. Das Einzige, was ich von diesem Tag behalten habe, ist der Klang der Flöte im Hintergrund. Damals wusste ich natürlich nicht, dass es Coffin unten in der U-Bahn-Station war. Er spielte Jigs und Reels und solche Sachen. Er war wirklich gut.«
    Angel hielt inne und trank noch einen Schluck Wein. Kate holte eine Tüte Salzgebäck, damit sie beim Wein etwas zu knabbern hatten. Schließlich fuhr Angel mit ihrer Geschichte fort.
    »Ich kann mich daran erinnern, wie es sich anfühlte, zu frieren und hungrig zu sein. Auch das Gefühl, auf der Straße zu leben, habe ich nicht vergessen. Es ist, als würde man gejagt. Ich glaube kaum, dass ich mich länger als ein paar Wochen herumtrieb, ehe sie mich fanden. Aber hätten sie mich nicht mitgenommen, hätte ich wahrscheinlich nicht viel länger durchgehalten.«
    »Sie brachten mich in ihr Haus in Notting Hill. Nach einer Weile zogen wir weiter. Doch auch daran erinnere ich mich kaum. Nach meinem Leben auf der Straße ging es mir nicht besonders gut. Ich hatte mein Gedächtnis verloren. Ganz und gar. Können Sie sich vorstellen, wie das ist?«
    Kate schüttelte den Kopf. Angel wurde unruhig. Ihre Augen bewegten sich ziellos durch das Zimmer.
    »Nein, niemand, der es nicht mitgemacht hat, kann sich das vorstellen. Ich lief durch die Straßen und blickte in Schaufenster, bis ich schließlich ein Geschäft fand, das Kalender und Tagebücher verkaufte. So habe ich herausbekommen, in welchem Jahr wir uns befinden. Ich glaubte es wissen zu müssen, um mir darüber klar zu werden, wie alt ich bin. Leider kann ich mich nicht an mein Geburtsjahr erinnern; mein Alter kenne ich bis heute nicht. Zweiundzwanzig? Oder vielleicht dreiundzwanzig? Ich weiß noch nicht einmal, wie viele Jahre meines Lebens mir fehlen.«
    Ihre Hände verkrampften sich. Kate überlegte, ob es möglich war, die Geschichte ein wenig zu beschleunigen, doch ehe sie einschreiten konnte, sprach Angel weiter.
    »Ich weiß auch nicht genau, wie lange es dauerte, ehe ich von den Vorgängen um mich herum Notiz nahm. Jedenfalls waren Winter und auch Frühling längst vorbei. Vielleicht im späten Frühling oder im Frühsommer. Alles war grün. Sehr grün. Vom Fenster aus konnte ich einen runden Hügel mit Kühen drauf sehen. Irgendwann habe ich erfahren, dass der Hügel Hangman Hill heißt. Aber das war viel später.«
    Somit hatte Angel im Frühjahr ein paar Monate ihres Lebens verloren.
    »Eines Morgens wachte ich auf – ich meine, ich wachte wirklich auf; plötzlich wusste ich, dass ich existierte und dass ich mich von den Leuten in meiner Umgebung unterschied. Ich muss Ihnen etwas erklären«, unterbrach Angel ihre Erzählung. »Es ist nicht nur, dass sie freundlich zu mir waren; was mich wirklich in Erstaunen versetzt hat, ist, dass sie offenbar nichts dafür verlangten. Nicht dass ich viel zu geben gehabt hätte. Aber auf der Straße muss man höllisch auf sich aufpassen. Jeder ist hinter irgendetwas her. Die Familie nicht. Sie wollten nichts weiter, als dass ich gesund und ein Mitglied der Familie werde. Die Familie ist das Wichtigste in ihrem Leben. Für mich wahrscheinlich jetzt auch. Egal – ich wollte Ihnen gerade von dem Morgen erzählen, an dem ich zu mir kam.«

    »Setz dich auf«, sagte er. »Du musst dich aufsetzen, wenn du essen möchtest. Oder bist du etwa nicht hungrig?«
    Das Gesicht war so nah, dass sie es nicht erkennen konnte. Rötliche Haut, noch rötere, etwas aufgeworfene, dickliche Lippen. Dunkle Augen; vielleicht braun oder dunkelgrau. Schwarze Augenbrauen. Unauffällige Nase. Entzündete Pickel auf der roten Haut. Große Hände mit riesigen Wurstfingern hielten ihr einen Pappteller unter die Nase. Sie roch geschmolzenen Käse und das Öl, das man in Fast-Food-Restaurants benutzt.
    »Es ist Pizza.« Eine andere Stimme. Ihr Besitzer stand ein Stück weiter weg. Sie konnte einen Teil seines Gesichtes über die Schulter des ersten hinweg sehen. Blasse Haut, lange Nase, dunkles, unregelmäßig gewachsenes Haar, das ihm tief in die Stirn hing. Als er ein Stück zur Seite trat, sah sie ein zerfetztes weißes T-Shirt, das irgendwann einmal versehentlich in die Buntwäsche geraten sein musste, denn

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