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Morgen trauert Oxford

Morgen trauert Oxford

Titel: Morgen trauert Oxford Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Veronica Stallwood
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Haus wieder einmal nach Pizza riecht. Wahrscheinlich ist Dime dabei, sich um ihr Mittagessen zu kümmern. Schade. Sie ist der ewigen Pizza Margherita allmählich mehr als überdrüssig. Ein paar Oliven oder Anchovis könnten für eine nette Abwechslung sorgen, aber wahrscheinlich wäre Dimes Geschmackssinn mit solchen kulinarischen Höhenflügen hoffnungslos überfordert.
    »Was machen wir hier in Devon?«, versuchte sie ihn auszuhorchen.
    »Keine Ahnung.« Dime zeigte sich ausgesprochen verblüfft, dass jemand überhaupt auf die Idee kam, eine solche Frage zu stellen. Ihr wurde klar, dass Dime nichts anderes tat, als Ant zu folgen. Oder anders ausgedrückt: Dime war ein Mitglied der Familie. Und wenn sich die Familie in Devon aufhielt, befand sich Dime eben in Devon. So einfach war das. Genau genommen führten alle Gruppenmitglieder ein ausgesprochen leichtes Leben. Sie mussten nur einen einzigen, wichtigen Punkt beachten: Sie gehörten zu Ants Familie. Dime lächelte sie an. Sie wusste, dass er sie mochte, und es war ein tröstliches Gefühl. Alle mochten sie. Dime nahm den Teller mit dem nur angebissenen Stück Pizza und verließ das Zimmer.
    »Ich bin mit dem Abwasch an der Reihe«, sagte er.
    Im Allgemeinen war sie lieber allein als in Gesellschaft, obwohl sie gern Coffins Flötenklängen lauschte. Bei Ant, Gren, Coffin und Dime war es friedlich. Friedlicher als …
    Sie ging ans Fenster und schaute den Schwalben zu, die tief über die Wiese segelten. Wenn sie nach Insekten jagten, konnte sie die weißen Bäuchlein sehen, ehe sie nach links davonschossen. Sie reckte den Hals. Was befand sich dort draußen? Ein graues Steintor, rosa Rosen, schwarz-weiße Schwalben. Devon. Sie wüsste gern mehr.
    Inzwischen konnte sie ihr Bett selbstständig verlassen. Sie war nicht mehr auf Dime, Ant, Gren oder Coffin angewiesen. Sie blickte an sich hinunter. Man hatte sie in ein altes, weiches Männerhemd gesteckt. Ihre Beine waren weiß und dünn vom langen Liegen. Schlaffe, unbenutzte Muskeln, ein Pelz aus unrasierten Härchen. Sie wirkten wie zwei fremdartige Tiere, die in Wärme und Dunkelheit gediehen waren. Und dann entdeckte sie die dicken, dunkelroten Narben an ihrem rechten Bein. Frische Narben. Plötzlich erinnerte sie sich an Schmerzen. Sie schüttelte den Kopf. Nein. Das war die falsche Richtung. Sie musste vorwärts streben. Vorwärts, wie der Knopf am Video-Recorder. Sie runzelte die Stirn. Video-Recorder. Die Bezeichnung kannte sie, aber wie sah das dazugehörige Ding aus? Zu schwierig. Sie sollte sich besser auf das Hier und Jetzt konzentrieren.
    Sie schnüffelte an ihrem Körper. Zwar roch sie etwas ungewaschen, aber angesichts der Umstände nicht allzu unangenehm. Hätte sie einen Spiegel gehabt, hätte sie sich betrachten können. Merkwürdig – sie konnte sich weder daran erinnern, wie sie aussah, noch wie alt sie war. Nicht allzu alt, das wusste sie. Vielleicht hatte sie irgendwo ein Zuhause, eine Familie, ein Bad, wo sie sich hätte waschen und kämmen können, und ein Leben, in das sie zurückkehren könnte. Wenn – ja, wenn … Eine Welle der Verzweiflung drohte sie zu überrollen. Sie musste sich konzentrieren. Konzentrieren auf die Dinge, die sie greifen konnte: ein Bett mit wärmenden Decken, ein Dach über dem Kopf, die Aussicht auf eine Wiese und einen runden Hügel, die Gesellschaft von Ant, Gren, Coffin und Dime. Alles war besser, als sich allein auf einem kalten, nassen Bürgersteig herumzutreiben, das zumindest wusste sie genau.
    Obwohl ihre Beine sie inzwischen wieder bis zum Fenster trugen, fühlten sie sich merkwürdig an. Es war, als hätte jemand Knochen, Muskeln, Arterien und Venen entfernt und sie durch eine Art weichen Gummi ersetzt. Vielleicht rührten daher die Narben. Sie musste zurück ins Bett. Da sie sich nie ganz sicher war, ob ihre Füße an der Stelle landeten, die sie beabsichtigt hatte, legte sie die Entfernung zwischen Fenster und Bett mit schwankenden Schlurf-Schrittchen zurück; die Arme hielt sie dabei ausgestreckt wie Fühler eines Wesens von einem anderen Stern.
    Gren trat ins Zimmer. Mit ihm hatte sie sich bisher am wenigsten beschäftigt. Er war nur irgendwer, der ihr Essen brachte, ihr das Gesicht wusch und sie hochhob, um das Bett zu machen.
    »Ich könnte dir vielleicht eine Gehhilfe besorgen«, sagte er. »Ich habe einen Freund mit ganz guten Kontakten.«
    »Danke. Das wäre vielleicht eine gute Idee.«
    »Kein Problem.«
    Dieser Satz war, wie sie im Laufe der

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