Morgen trauert Oxford
Er kam ihr so nah, dass sie die roten Äderchen in seinen Augen sehen konnte. Seine riesige Pranke umklammerte ihren Arm.
»Ich habe ebenso viele Rechte an den Manuskripten wie Olivia. Mehr sogar. Ich bin älter als sie. Älter als sie alle! Und nur die Tatsache, dass man sie im Bartlemas und nicht im Leicester gefunden hat, gab ihr nicht das Recht, sie mir fortzunehmen. Sie dachte, in den Briefen ginge es um Kinder und Geburt. Glauben Sie das auch? Ist es das, woran Sie interessiert sind?«
»Nein, nein«, redete Kate beruhigend auf ihn ein. »Ich habe weder das geringste Interesse an Babys noch an allem, was damit zusammenhängt.«
»Darum geht es auch nicht in diesen Tagebüchern und Briefen. Aber das wissen Sie, nicht wahr?« Kate nickte heftig. »Sex«, sagte er.
»Trotzdem vielen Dank«, sagte Kate, aber er hörte ihr nicht zu.
»Es geht ausschließlich um Sex. Um erotische Masturbationsfantasien der gelangweilten Ehefrau eines Geschäftsmannes aus Nord-Oxford. Die Tagebücher sind voll davon. Wundervoll. Dunkel. Labyrinthisch. Einzigartig. Das alles haben wir hier. Außerdem intime Sexdetails aus der Beziehung zwischen Charles Dickens und seiner Mätresse Nelly Ternan. Endlich bekomme ich meinen Bestseller! Ich werde den Text übertragen, ihn mit Anmerkungen versehen, ihn kommentieren, ihn publizieren. Und für den Einband suche ich etwas Passendes mit viel nacktem, rosa Fleisch aus. Das Publikum wird begeistert sein. Schweinereien hinter einer moralischen Fassade. Und ich werde den Ruhm einheimsen!«
»Ein wirklich netter Gedanke«, stimmte Kate ihm zu. »So etwas Ähnliches hatte ich ebenfalls vor.«
»Vergessen Sie es«, sagte Brendan böse. »Ich werde dafür sorgen, dass Sie nicht vor mir auf den Markt drängen.«
»Und wie? Was haben Sie vor?«
»Ich könnte zum Beispiel der Polizei erzählen, dass ich Sie unmittelbar vor Olivias Tod verkleidet im Leicester College gesehen habe. Ich könnte durchblicken lassen, wie grausam Liam Ross Sie mit Olivia Blacket hintergangen hat und wie Sie sich an meiner Schulter Ihre Eifersucht und Wut von der Seele geweint haben. Und dann haben Sie versucht, die in meinem Besitz befindlichen Ternan-Manuskripte zu stehlen. Ich musste mich natürlich verteidigen. Jetzt werde ich Sie festhalten, bis die Polizei kommt.«
»Sie sollten sich als Romanschriftsteller versuchen.«
»Keine dumme Idee. Erotische Romane wären nicht schlecht.«
»Sie sind verrückt. Sie können mich nicht festhalten.«
»Ich will Sie nur so lange aus dem Verkehr ziehen lassen, bis ein Verlag mein Angebot angenommen hat. Danach werde ich es als unglückseliges Missverständnis hinstellen. Und die Polizei verschafft sich bestimmt ebenfalls Klarheit. Los jetzt.«
Am linken Arm zerrte er sie durch das Haus.
Kate vermutete, dass er wahrscheinlich ganz richtig lag: Die Polizei würde sie sicherlich von Herzen gern für ein paar Tage wegsperren und sie nach ihrer Verwicklung in den Mordfall Olivia Blacket befragen. Immerhin hatte sie sich als Amateurin eingemischt, und so etwas wurde durchaus nicht gerne gesehen. Sie musste um jeden Preis verschwinden, ehe die Polizei mit Blaulicht und Martinshorn anrückte.
Geradeaus lag die Küche, wo wahrscheinlich Ludo eingesperrt war und sehnsüchtig auf die nächste Mahlzeit wartete. Die Eingangstür befand sich links, doch Brendan blockierte den Weg in die Freiheit. Rechts gab es einen kurzen Flur mit einer Tür am Ende. Kate entspannte den Arm, den Brendan umklammert hielt, bis er ihn unwillkürlich ein wenig sinken ließ, und schnellte ihn dann heftig nach oben und außen, wie sie es im Selbstverteidigungskurs gelernt hatte. Sie trat ihm hart auf den Spann, drückte ihm die Daumen in die Augen und sprintete los in der Hoffnung, sich nicht in der Tür getäuscht zu haben. Brendan hinter ihr jaulte vor Wut und Schmerz. Kate stieß die Tür auf.
Ja. Mülltonnen. Ein kleiner Garten mit Wäscheleinen. Ein schmaler Weg, der um das Haus herum nach vorne führte, wo sie ihren Wagen geparkt hatte.
Im Rennen angelte sie die Autoschlüssel aus der Handtasche, schloss das Auto auf und ließ sich auf den Fahrersitz fallen. Der Motor war noch warm und sprang sofort an. Sie hatte bereits das Ende der Auffahrt erreicht, als der Kies hinter ihr knirschte und Brendan aus dem Haus gestolpert kam.
Sie fuhr mindestens eine gute Meile, ehe sie den Wagen an die Seite zu lenken wagte und nach dem Handy griff. Zeit, um Hilfe zu rufen, dachte sie. Sie starrte das kleine
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