Morgen wirst Du frei sein (German Edition)
bestimmte Haltung eingenommen, was auch immer.«
»Okay. Aber wir sind noch immer nicht weiter in der Frage, wie Jessica dorthin gekommen ist.«
»Vielleicht hat sie jemand mitgenommen? Und dann verschleppt?« Ich wollte nicht daran denken, doch es gab keine andere Möglichkeit, die mir plausibel erschienen wäre. »Aber Jessica war weder naiv noch dumm. Wenn sie mit jemandem mitgefahren ist, dann muss sie demjenigen vertraut haben.«
»Eine Frau?«, fragte Zecke.
Ich nickte. »Wäre denkbar.«
»Du hast gesagt, sie wurde nicht vergewaltigt oder so?«
»Nein. Nichts dergleichen. Die Polizei fand keine Spuren von Gewaltanwendung. Nicht einmal das kleinste Anzeichen dafür, dass noch eine zweite Person in der Nähe war. Sie hatte nur die Verletzungen durch den Sturz und die, die sie sich beim Versuch zugezogen hat, aus dem Schacht zu klettern.« Tränen schossen mir in die Augen. »Verdammt, sie war so nah! Sie ist nur wenige Kilometer entfernt tagelang in einem Loch gesessen, hatte Todesangst, Hunger, Durst. Und ich? Ich lag satt und schlafend in meinem Bett!« Ich schrie die Worte heraus, schlug verzweifelt mit der Faust auf die Theke.
Der Wirt kam näher, wolle den vermuteten Streit schlichten, blieb aber auf einen Wink von Zecke stehen. Schaute, verstand und wandte sich wieder ab.
Zecke legte den Arm um mich. »Ich weiß. Scheiße.« Er drückte mir einige Servietten in die Hand. »Putz dir die Nase. Ich bin mal auf´m Klo.«
Einige Biere und vom Wirt ausgegebene Schnäpse und eine verschlafene Fahrt in der U-Bahn später ließ Zecke mich auf meine Matratze in seiner Wohnung sinken. Er zog mir die Schuhe von den Füßen und zerrte an meinen Hosenbeinen. Schließlich gab er auf. »Bin doch nicht deine Mami, du besoffenes Baby!«, motzte er und warf sich auf sein Bett.
Am Morgen hing ich auf dem Stuhl in der Küche und kühlte meinen Nacken mit in Waschlappen gefüllten Eiswürfeln, während mehrere Aspirin in einem Wasserglas vor mir sprudelten.
Zecke stellte einen dreifachen Espresso vor mich hin und grinste. »Wenn man nichts verträgt, sollte man nicht saufen.«
In meinem Kopf übte jemand Stepptanz, meine Augen vertrugen sich nicht mit dem Licht, das durch die halb geöffnete Jalousie drang. Ich stöhnte.
»Soll ich dir eine Entschuldigung schreiben?«
»Leck mich am Arsch«, entgegnete ich mit belegter Stimme.
»Hm.« Zecke kratzte sich am Hinterkopf. »Ich tu ja vieles für dich, aber ...« Dann warf er mir die Zeitung zu. Mein Blick fiel auf den Artikel, den er aufgeschlagen hatte. Ich las die Überschrift, ignorierte das Foto und überflog den Text. Jessicas Tod sei ein tragischer Unglücksfall gewesen, stand da. Die Polizei sehe keinen Grund, in Richtung Fremdverschulden zu ermitteln. Ich ließ die Zeitung von meinem Schoß rutschen.
Zecke hob sie auf. »Was bleibt? Fragen über Fragen.« Er setzte sich und betrachtete Jessicas Bild. Dann sah er mich an. »Warum kommt mir in dieser Sache immer wieder Thea in den Sinn? Ich kann es nicht ändern: Wie ich es drehe und wende, führt mich mein Instinkt zu dieser Frau.«
»Quatsch. Wie soll das denn gelaufen sein? Thea hat kein Auto, sie kann meines Wissens noch nicht einmal fahren.«
Zecke beugte sich vor. »Lass uns doch einfach mal eine Szene durchspielen«, sagte er eindringlich. »Stellen wir uns vor, Jessica hätte nachmittags bei dir zu Hause angerufen. Thea war dran. Jessica erzählte, sie wolle dich besuchen. Eine Überraschung. Sie würde sich in den Zug setzen und rausfahren zu dir. Fragte Thea, welchen Bus sie nehmen solle. Thea schlägt vor, sie zu Fuß vom Bahnhof abzuholen. Das tut sie. Dann faselt sie was von tollem Wetter und einem Spaziergang durch den Wald, eine Abkürzung, bei der man, was weiß ich, vielleicht in einer halben Stunde zu Hause wäre. Sie gehen los, kommen zu diesem Bauernhof, Thea stößt Jessica in den Brunnen. Dann geht sie nach Hause. Kein Mensch hat sie gesehen.«
Mein Kopf drohte zu platzen.
»Warum hätte sie das tun sollen?«, krächzte ich.
»Weil Jessica eine Gefahr darstellte. Weil sie dir eine Vertraute geworden war beziehungsweise dabei war, eine zu werden. Weil du ihr hättest erzählen können, dass Thea dich erpresst. Weil Thea dich allein haben wollte, um dich auszunehmen. Weil diese Frau krass gestört ist!«
Ich schwieg. Blödsinn, dachte ich. Ausgemachter Blödsinn. »Und warum hat sie dann nicht auch dich umgebracht? Ich meine, dir habe ich alles erzählt, im Gegensatz zu
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