Morgen wirst Du frei sein (German Edition)
die Bäume hatten jede Farbe verloren. Oder kam mir das nur so vor? Hatte ich die Fähigkeit eingebüßt, Farben zu sehen, weil ich mich hier an dem Ort befand, an dem Jessica starb? Ich hatte einmal gelesen, dass Depressive ihre Umwelt in Grautönen wahrnehmen. Damals konnte ich das Gefühl nicht nachvollziehen, das einen Menschen befällt, dem das Bunte abhandenkommt. Wurde man depressiv, weil einem Farben fehlten? Oder fehlten Farben, weil man depressiv war?
Ich schüttelte den Kopf. Womit beschäftigte ich mich da eigentlich? Mir war klar, dass ich Angst hatte, weiterzugehen, mich dem zu stellen, was ich sehen würde: den Ort, wo der Mensch, den ich geliebt hatte, gestorben war.
Ich streunte über den Hof, warf einen Blick in das halb verfallene Wohnhaus, stolperte über zerbrochene Dachziegel und Holzleisten, die überall herumlagen, betrachtete die verrosteten Traktoren in der Maschinenhalle und näherte mich dann dem Brunnen. Jemand hatte ein Gitter darübergelegt und ein Warnschild aufgestellt.
Ich trat vorsichtig näher heran und schaute in die Tiefe. Es war zu dunkel, um etwas zu erkennen. Meine Taschenlampe hätte mir gute Dienste geleistet. Doch wollte ich die Spuren von Jessicas erfolglosen Versuchen, dem Schacht zu entkommen, wirklich sehen?
Ich stand am Rand und fühlte mich leer. Ich konnte nicht begreifen, was ich sah. Dieses Loch und Jessica nahmen in meinem Gehirn keinerlei Kontakt miteinander auf. Was hatte ich erwartet? Die Antwort auf meine Frage?
»Warum?«
Ich war zurück nach Hause gerast, ins Haus gestürmt und hatte mich im Wohnzimmer vor Thea aufgebaut. Ich wünschte mir nichts mehr als eine Antwort auf die Frage, die mich so sehr quälte.
Thea schwieg.
»Warum musste Jessica sterben?« Thea wich meinem Blick aus. »Selbst wenn es einen Grund gibt, warum musste sie so elend verrecken? Was hat sie getan, was diese Grausamkeit rechfertigen kann?« Ich tobte, heulte, drosch mit den Fäusten auf die Wand ein, die Haut an meinen Knöcheln platzte auf. Der Schmerz und das Blut brachten mich zur Besinnung.
»Warum? Sag es mir! Bitte.« Thea war bis zum Fenster zurückgewichen. Hatte sie etwa Angst vor mir? Doch mein Wutausbruch war abgeebbt und lähmender Resignation gewichen. Ich zog die Nase hoch, wartete. Kein Wort. Thea stand einfach nur da, beobachtete mich. Ich sah die Unsicherheit in ihren Augen, die Vorsicht, das Misstrauen.
Thea hatte Jessica getötet. Aber warum? Hatte Zecke recht? War diese Frau eine Psychopathin, eine, die die Realität anders wahrnahm als wir? Die sich die Realität so zurechtbog, bis sie in ihr krankes Weltbild passte? Die einen Menschen einen schrecklichen Tod sterben ließ, weil er ihr im Weg stand? Wohin führte er, dieser Weg? Welche Hindernisse musste sie noch beseitigen, um ihr Ziel zu erreichen? War ich das nächste?
Ich lag auf meinem Bett und grübelte, suchte nach Antworten und Lösungen.
Angst? Nein, Angst hatte ich keine. Nicht mehr.
28. Kapitel
Ich musste handeln.
Zecke hatte mich inständig gebeten, wieder zu ihm zu ziehen, Thea aus dem Weg zu gehen. »Diese Frau ist gefährlich, Chris. Sie ist zu allem fähig, das weißt du doch mittlerweile. Das ist keine harmlose Alte, sie ist ernsthaft krank. Ich weiß nicht, unter welcher Krankheit sie leidet, aber ich kann mir durchaus vorstellen, dass sie schizophren ist.«
Er redete auf mich ein, doch ich war so in Gedanken versunken, dass seine Worte zu Hintergrundrauschen verschwammen.
»Ich brauche die Rechnungen«, sagte ich entschlossen.
Zecke stutzte. »Du hast mir nicht zugehört, stimmt´s?«
»Was?«
Er winkte ab. »Vergiss es!«
»Ich habe mir was überlegt«, fuhr ich fort. »Ich brauche einen GPS-Tracker, der Theas Route aufzeichnet. Die lese ich dann aus und fahre sie nach. Kein Thema, das kann sogar mein Smartphone.«
»Einen was?« Zecke zog die Augenbrauen hoch. »Wovon redest du?«
»Jessica war Joggerin. Sie lief ziemlich viel und dokumentierte ihre Routen sehr gewissenhaft. Sie nutzte dafür ihr iPhone, auf dem ein kleines Programm installiert war, das aufgezeichnet hat, wo sie wann gelaufen ist. Ich habe es gesehen, Kilometer, Zeit, Höhenmeter, sogar ihren Puls konnte sie damit messen.«
»Und was nützt das, wenn du weißt, dass Thea fünf Kilometer weit in, sagen wir, zwanzig Minuten mit dem Rad gefahren ist? Damit weißt du doch noch nicht, wo sie war.«
»Klar weiß ich das! Die Route wird in Google Maps angezeigt, metergenau.«
Zecke schaute
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