Morgen wirst du sterben
rau Heimann ist total sauer auf mich. Ich kann deine Mutter nicht erreichen, sagt sie. Sie kommt nicht in die Sprechstunde und wenn ich bei euch anrufe, nimmt keiner ab.
Natürlich nimmt keiner ab. Mama geht nicht mehr ans Telefon. Immer wenn wir telefonieren, hören die Männer mit. Das Telefon wird nicht mehr benutzt, sagt Mama.
Die Tür macht sie auch nicht mehr auf. Nicht einmal, wenn Harry kommt. Harry ist nämlich auch einer von den Männern, das hat sie jetzt herausgefunden.
Frau Franz aus dem Erdgeschoss steckt auch mit denen unter einer Decke, sie schreibt sich auf, wann Mama und ich aus der Wohnung kommen und wann wir wieder zurückkommen und was wir im Treppenhaus sagen, und sie durchwühlt unseren Müll.
Zu mir ist Frau Franz immer scheißfreundlich. Sie will mir ständig was zum Essen geben oder Süßigkeiten. Aber ich nehme nichts, es ist bestimmt vergiftet.
Frau Heimann gibt mir einen Brief. Den bringst du morgen unterschrieben zurück, sagt sie. Wenn deine Mutter keinen Kontakt mit mir aufnimmt, muss ich das Jugendamt einschalten.
Auf dem Nachhauseweg werfe ich den Brief in den Mülleimer an der Trambahnstation. Wenn ich ihn Mama gebe, dann denkt sie, dass Frau Heimann auch mit den Männern unter einer Decke steckt. Und zur Sprechstunde geht sie sowieso nicht.
Da hab ich wirklich Wichtigeres zu tun, sagt sie.
8
Von einem Tag auf den anderen war der Sommer da. Als Sophia morgens das Haus verlassen hatte, war es noch kühl gewesen, aber gegen Mittag kletterte das Thermometer auf siebenundzwanzig Grad. Schwitzend radelte sie von der Schule nach Hause. Sie konnte es kaum erwarten, ihre lange Jeans gegen eine kurze Hose zu tauschen. Eigentlich waren ihre Beine zu dick für kurze Hosen, aber wenn sie sich damit in den Garten legte, sah sie ja keiner. Und braun gebrannte fette Beine waren definitiv besser als bleiche fette Beine.
Als sie vor dem Haus vom Fahrrad sprang, stand da Moritz. Er lehnte am Gartenzaun und sah so fertig aus, als wäre ihr Vater oder ihre Mutter gestorben oder beide zusammen.
»Was ist denn mit dir los?«, fragte Sophia erschrocken. Warum war ihr Bruder nicht bei der Arbeit? Normalerweise fuhr er mittags zu seiner Pizzeria in die Altstadt und kam dann erst nachts wieder nach Hause.
»Der K…«, begann Moritz, schluckte mitten im Wort und verstummte.
»Der was?« Nun bekam Sophia wirklich Angst. »Moritz, was ist passiert?«
»Der Kater«, stammelte er. Und sah sie dabei an, als erwartete er, dass sie den Satz für ihn beendete.
»Der Kater? Was ist mit ihm?«
»Er…trunken«, stieß er mühevoll hervor.
»Der Kater ist ertrunken?« Machte ihr Bruder sich über sie lustig? Jetzt drehte er sich um, aber er ging nicht ins Haus, sondern rannte den schmalen Fußpfad entlang, der in den Garten führte. »Warte doch mal!« Sophia rannte ihm nach.
Die Rothes wohnten im Erdgeschoss eines Altbaus und zu der Wohnung gehörte ein großer Garten. Weil jedoch keiner von ihnen Lust auf Gartenarbeit hatte, war das Grundstück völlig verwildert. Zweimal im Jahr bestellte Herr Rothe eine Gartenbaufirma, die die Anlage wieder einigermaßen in Schuss brachte.
Nun war Sommer, und dem Garten war längst nicht mehr anzusehen, dass hier vor einigen Wochen drei Gärtner geschuftet und geschwitzt hatten. Die Ligusterhecken waren außer Form geraten, in den Beeten blühten Brennnesselstauden, auf dem Rasen wuchsen Löwenzahn und Giersch, und die Rosensträucher glänzten von Blattläusen.
Moritz marschierte schnurstracks auf die Regentonne zu, die Herr Rothe im letzten Jahr angeschafft hatte, nachdem er sich so über den hohen Wasserverbrauch geärgert hatte. »Regenwasser ist doch das Beste für die Pflanzen«, hatte er verkündet. »Und noch dazu völlig kostenlos.« Leider vergaß er ständig, die Tonne zu leeren, sodass das Wasser immer wieder zu faulen begann und dann entsorgt werden musste.
»Da«, sagte Moritz und zeigte auf die runde Abdeckung, die nicht auf der Tonne, sondern mitten auf dem Rasen lag.
Sophias Herz begann mit einem Mal wie verrückt zu schlagen. Weil sie keine Katzenklappe hatten, sprang Egon immer auf ihr Fensterbrett, wenn er ins Haus wollte. Direkt darunter stand die Tonne. Wenn er nun abgerutscht und ins Wasser gefallen war …
»Nein«, sagte sie tonlos.
Moritz starrte sie schweigend an. Sein Gesicht war bleich, ein bisschen aufgedunsen. Als hätte er selbst zu lange im Wasser gelegen.
»Sag doch was!«, schrie sie ihren Bruder an. »Ist Egon etwa da
Weitere Kostenlose Bücher