Morgen wirst du sterben
Schaltjahre mal vor, dass irgendjemand irgendetwas mit ihr unternehmen wollte.
Warum, fragte sie sich jetzt, hatte ihr Vater das Paket nicht einfach in die Praxis liefern lassen? Und wieso hatte er heute Morgen nichts davon erwähnt?
Ihr Vater benahm sich total seltsam in den letzten Wochen. Es war fast, als ob er sich bei Moritz angesteckt hätte. Er war schweigsam, geistesabwesend, fahrig. Und wenn man ihn darauf ansprach, wich er entweder aus oder er wurde sauer. Ich weiß gar nicht, was ihr immer habt.
Seine seltsame Reaktion auf die anonyme Mail zum Beispiel. Zuerst hatte er Anzeige erstatten wollen, dann änderte er seine Meinung plötzlich wieder. Stattdessen hatte er Sophia stundenlang ausgefragt. Ob sie sich wirklich nicht denken könnte, wer hinter den seltsamen Nachrichten stand. Ob sie in letzter Zeit Ärger mit einem Mitschüler gehabt hätte. Oder mit irgendjemand anders.
»Ist vielleicht irgendetwas Außergewöhnliches vorgefallen?«, wollte er wissen.
»Wie meinst du das?«, fragte Sophia irritiert.
»So, wie ich es sage. Ist dir etwas aufgefallen? Hat dich jemand angesprochen oder angemacht? Hast du jemanden kennengelernt?«
Felix, dachte Sophia sofort. Felix war in ihr Leben getreten, aber dann hatte er es auch sofort wieder verlassen. Aber darüber würde sie mit ihren Eltern bestimmt nicht reden.
»Diese Mails haben nichts zu bedeuten«, sagte sie. »Das war irgendein Blödmann aus der Schule, der sich aufspielen wollte. Ich hätte euch gar nichts davon erzählen sollen.«
»Ich bin aber sehr froh, dass du uns davon erzählt hast«, erklärte ihre Mutter. »Und ich bin auch weiterhin der Meinung, dass wir auf jeden Fall die Polizei informieren sollten.«
»Ach Quatsch!«, sagte Sophia. »Ich hab mit ein paar Freundinnen aus der Schule gesprochen. Die meinen auch, dass man solche Typen einfach ignorieren soll. Dann geben sie ganz schnell auf, weil es ihnen nämlich langweilig wird.«
»Oder sie setzen noch eins drauf. Nein, ich will auf keinen Fall irgendetwas riskieren.« Ihre Mutter blickte jetzt Hilfe suchend zu ihrem Mann. »Sag du doch auch mal was, Jochen!«
»Ja«, sagte Herr Rothe. »Ich …« Dann massierte er sich mit den Zeige- und Mittelfingern die Schläfen, als ob er plötzlich Kopfschmerzen bekommen hätte. »Ich glaube, Sophia hat Recht«, fuhr er nach einer Weile fort. »Wir sollten nicht mit Kanonen auf Spatzen schießen. Wenn die Polizei jetzt in der Schule aufkreuzt und einen Riesenwirbel veranstaltet, dann fühlt sich dieser Idiot doch nur bestätigt …«
»… und ich bin bei allen unten durch«, ergänzte Sophia seinen Satz.
Der Blick ihrer Mutter wanderte ratlos von ihrem Mann zu ihrer Tochter und wieder zurück. »Also, ich weiß nicht. Mir ist absolut nicht wohl bei der Sache. Bist du dir denn sicher, Jochen?«
»Ganz sicher«, beteuerte Herr Rothe und lächelte seine Frau dabei an. Aber sein Lächeln hatte nichts Ermutigendes. Es war schief und kraftlos.
Sophia ging ins Wohnzimmer und blickte durch die Terrassentür hinaus in den Garten. Auf dem Beet, unter dem sie Egon begraben hatte, saß eine Elster und zog einen fetten Regenwurm aus der lockeren Erde. Sophia war sich auf einmal ganz sicher, dass der Paketdienst nicht mehr kommen würde. Weil es nämlich gar keine Lieferung gab, die zugestellt werden sollte. Das hatte ihr Vater sich nur ausgedacht, damit sie das Haus nicht verließ. Wovor hatte er Angst?
Und was, zum Teufel, war mit Moritz los? Warum war er so fertig gewesen, als er Egon gefunden hatte? Er hatte den Kater früher kaum beachtet. Wieso nahm ihn sein Tod jetzt so mit?
»Und warum, verdammt noch mal, macht keiner von euch das Maul auf und erzählt mir, was hier abgeht?«, fragte Sophia laut.
Die Elster schwang sich mit dem Regenwurm auf einen Baum und drehte Sophia den Rücken zu. Sophia wandte sich ebenfalls ab. Sie beschloss, schwimmen zu gehen. Und heute Abend würde sie ihren Vater zur Rede stellen. Und Moritz auch. Ab sofort gibt es keine Ausflüchte mehr, dachte sie. Nur noch Klartext.
M ein neues Zimmer ist viel größer als mein altes Zimmer und viel sauberer, weil Papa eine Putzfrau hat. Und viel mehr Geld als Mama.
Eigentlich ist er ja gar nicht mein Papa. Dad ist mein richtiger Papa, das hat mir Mama gesagt. Aber das sage ich nicht, das denke ich nur. Und was ich denke, ist meine Sache. Papa kann ja zum Glück nicht in mein Gehirn gucken.
Ihr werdet euch schon zusammenraufen, hat die Frau gesagt, die mich hergebracht
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