Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Morgen wirst du sterben

Morgen wirst du sterben

Titel: Morgen wirst du sterben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gina Mayer
Vom Netzwerk:
schöpfte Marianne Suppe in zwei Tassen und reichte eine ihrer Tochter. Sie löffelten schweigend.
    »Ich muss jetzt los«, verkündete Julie danach und stand auf.
    »Ich dachte, du bleibst bis morgen?«, fragte Marianne.
    »Mir ist etwas dazwischengekommen«, log Julie.
    Sie nahm sich vor, ihren Vater anzurufen, sobald sie zu Hause in ihrer Wohnung wäre. Stattdessen wischte sie Staub und putzte die Fenster und schrieb ein paar E-Mails und räumte ihren Kleiderschrank auf und schrieb noch ein paar E-Mails und machte den Fernseher an und zappte von einem Programm zum anderen. Danach ging sie schlafen.
    In den nächsten Tagen regnete es in Strömen. In der Boutique ließen sich kaum Kunden blicken. Renate hatte einen Termin nach dem anderen – bei Ärzten, bei der Kosmetikerin, auf dem Finanzamt. Julie war die ganze Zeit allein im Laden.
    Immer wieder rief sie die Nummer ihres Vaters auf und starrte auf die Zahlenreihe wie auf eine komplizierte Rechenaufgabe. Sonntag wäre der perfekte Tag gewesen, ihn anzurufen. Da wäre er wahrscheinlich zu Hause gewesen. Aber unter der Woche war er bestimmt in seiner Praxis.
    Nur deshalb wagte sie es letztendlich doch, die Nummer zu wählen. Weil sie sich so sicher war, dass er ohnehin nicht da war.
    Sie drückte auf das Hörersymbol, schloss die Augen. Irgendwo in Düsseldorf klingelte jetzt das Telefon. Ein-, zwei-, drei-, vier-, fünf-, sechs-, sieben-, acht-, neun-, zehnmal. Und als Julie gerade auflegen wollte, ging jemand dran.
    »Hallo?«
    Keine Männerstimme, dachte Julie erleichtert.
    Ein Mädchen oder eine junge Frau.
    »Wer ist denn da?«, erkundigte sich das Mädchen.
    »Kann ich bitte mit Herrn Rothe sprechen?«, fragte Julie.
    »Und wer sind Sie?«, fragte das Mädchen noch einmal.
    »Ich bin Julie«, sagte Julie. Julie Rothe, kritzelte sie auf den Quittungsblock, der neben dem Telefon lag. Dann übermalte sie den Nachnamen mit einem dicken schwarzen Balken.
    »Worum geht es denn?«
    »Das würde ich Herrn Rothe gerne persönlich sagen.«
    »Das geht jetzt nicht«, sagte das Mädchen. »Mein Vater ist nicht da.«
    Mein Vater. Julie schnappte nach Luft. Jochen Rothe hatte offensichtlich nicht nur einen Sohn, sondern auch eine Tochter. Ich habe eine Schwester, dachte Julie, und auf einmal war sie sich ganz sicher, dass die anonymen Nachrichten und der Einbruch mit ihrer Vergangenheit zusammenhingen.
    »Sind Sie noch dran?«, fragte das Mädchen, ihre Schwester.
    »Wann kommt er denn wieder?«, erkundigte sich Julie. »Es ist wirklich sehr wichtig.«
    »Das kann ich Ihnen nicht sagen. Mein Vater ist weg.«
    »Weg?«
    »Er ist verschwunden«, sagte ihre Schwester und dann legte sie einfach auf.

P apa hat rausgefunden, dass ich mich mit Dad getroffen habe.
    Wahrscheinlich hat Frau Müller-Riehm ihn vor dem Hort gesehen und hat es Papa brühwarm erzählt. Frau Müller-Riehm muss sich immer wichtigmachen, die blöde Funzel.
    Papa rastet total aus. Dieses verdammte Arschloch, ich will nicht, dass du das Schwein triffst, hörst du?
    Ja, ja, ja, ja, ja!
    Wenn er das nächste Mal aufkreuzt, sagst du mir Bescheid und zwar sofort! Papa schreit so laut, dass mir fast der Kopf platzt. So laut, dass ich mir die Ohren zuhalten muss. Hör mir zu!, schreit er und reißt die Hände von meinen Ohren. Dieser verdammte Scheißkerl hat deine Mama krank gemacht, der ist schuld, dass sie durchgedreht ist. Verstehst du das? Ob du das verstehst!?
    Ich verstehe es, aber ich glaube es nicht.
    Du triffst diesen Kerl nie mehr. Nie mehr!, brüllt Papa.
    Da hole ich tief Luft. Da nehme ich meinen ganzen Mut zusammen. Weil jetzt muss ich den Mund aufmachen, sonst kann ich hier verrotten, bis ich erwachsen bin.
    Er zieht sowieso um, sage ich. Und dann nimmt er mich mit.
    Ist das wahr?, fragt Papa. Hat er dir das gesagt?
    Hat er nicht. Aber ich will, dass es stimmt, deshalb tu ich so, als ob es stimmt. Ich nicke.
    Der hat ja wohl den Arsch auf, sagt Papa. Der hat gar kein Recht auf dich.
    Doch, sage ich. Der hat wohl ein Recht auf mich. Weil er mein Papa ist und nicht du, hat Mama gesagt.
    Da guckt Papa wie Frau Heimann, als Sören ihr die Nacktschnecke in die Tasche gepackt hat. Und dann scheuert er mir eine. Mein Kopf reißt ab und fliegt weg und knallt gegen die Wand. Einen Moment lang bin ich tot.
    Als ich wieder zu mir komme, ist Papa voll geschockt. Das tut mir leid, sagt er, das wollte ich nicht, echt nicht.
    Ich sage nichts. Mein Kopf dröhnt viel zu laut, wie ein kaputter Fernseher dröhnt

Weitere Kostenlose Bücher