Morgengrauen
Fünfzig-Meter-Becken heran. Klaus bemühte sich gerade, ein paar tratschende Damen mit Badehauben auszufragen. Hubertus versuchte, auf gleicher Höhe wie der etwas verschrobene Herr Keller zu schwimmen, was kein leichtes Unterfangen war. Da dieser sich sowieso kein Wort entlocken ließ und nur freundlich lächelte, gab Hummel die Verfolgungsjagd nach zwei Bahnen keuchend auf. Während des Schwimmens eine Befragung zu starten war offenbar keine gute Idee gewesen.
Plötzlich durchbrach ein lauter Schrei die morgendliche Frühschwimmerstille. Hummel zuckte zusammen, Riesle schaute entsetzt: Gleich würde es hier im Wasser womöglich noch einen weiteren Toten geben. Der eine oder andere Badegast war jedenfalls starr vor Entsetzen.
Es waren die ersten Takte einer Arie aus Verdis Aida, die gerade aus Edelbert Burgbachers altem Kofferradio mit weißem Lederbesatz zum Besten gegeben wurden. Burgbacher, die Speckröllchen unter viel zu großen Badeshorts versteckt, hatte ihn neben einem der Startblöcke abgestellt. Auf diesem baute er sich nun auf, um sich mit einer gewaltigen Wasserfontäne kopfüber ins Becken zu stürzen. Doch er war noch nicht mal wieder aufgetaucht, als sich im Becken schon tumultartige Szenen abspielten. »Aufhören, Unverschämtheit!«, brüllten einige der Badegäste empört. Die meisten konnten aufgrund des Nebels allerdings nicht so recht sehen, was vor sich ging.
»Pah, Banausen!«, gab Edelbert ebenfalls empört zurück, schwamm nun als Einziger völlig unbeeindruckt weiter und setzte hie und da sogar stimmlich mit ein. Erst das gute Zureden seiner Freunde brachte ihn dazu, die musikalische Frühschwimmuntermalung abzustellen.
Klaus war sauer: »Mensch, Edi, wir wollen um keinen Preis auffallen, und du inszenierst hier ein Arienschwimmen.«
Doch Burgbacher hatte schon kein Ohr mehr für Klaus’ Schelte, da ihn gerade die Damenriege erkannt hatte und mit großem »Hallo« in ein Gespräch verwickelte. Der Impresario durfte nach deren Meinung ruhig etwas exzentrisch sein.
»Ihre letzte Rolle als Romeo in Es war die Lerche war einfach umwerfend«, umgarnte ihn eine der Haubentaucherinnen.
»Ach ja?«, säuselte Edelbert zurück. Er liebte es, von seinen Fans umschwärmt zu werden – auch wenn er es nie zugegeben hätte. Und deren Alter war ihm in diesem Fall egal.
Hubertus war derweil schon wieder abgelenkt. Trotz des lauten Schwatzens hörte er ein Stöhnen. Sein Blick fiel auf einen Mann am seitlichen Beckenrand, nur wenige Meter von ihnen entfernt. Zitternd hielt er sich am Rand fest. Hummel schwamm mit zwei, drei Zügen zu ihm.
»Hallo, Sie! Ist Ihnen nicht gut?«, fragte Hubertus schwer schnaufend.
Keine Antwort.
Der Mann mochte so um die sechzig Jahre alt sein. Er hatte kurz geschorene graue Haare und eine Stirnglatze. Sein Körperbau machte einen für sein Alter ungewöhnlich durchtrainierten Eindruck.
Als Hubertus gerade überlegte, ob er Bademeister Willy zu Hilfe rufen sollte, wiegelte der Mann ab: »Schon gut – es geht wieder. Es ist nur unangenehm, im selben Wasser wie ein Mörder zu schwimmen.«
»Ja, schlimm, was passiert ist«, stimmte Hubertus zu und fragte dann: »Waren Sie gestern auch hier, als die Frau tot im Wasser lag?«
»Ja«, schaute der Mann ihn nun an. »Ich habe den Tod nicht verhindern können …«
Hubertus begann es zu frösteln, was nicht nur am kühlen Freibadwasser lag, sondern vor allem am nächsten Satz seines Gegenübers: »Verstehen Sie?«, flüsterte der nämlich. »Ich habe es nicht geschafft. Der Mörder ist wieder im Wasser!«
Hubertus durchfuhr ein Gefühl, das irgendwo zwischen mulmig und panisch lag. Er betrachtete argwöhnisch die vorbeischwimmenden Gestalten, die er schemenhaft erkennen konnte: die Damen mit den Badehauben, den schweigenden Herrn Keller, den Schwarzwälder Mark Spitz, der wie ein Hündchen paddelte, die anderen Walrösser, die unaufhörlich prustend ihre Bahnen zogen, den französischen Bademeister Marke Jean-Paul Belmondo, die Bademeistergehilfen, welche die Durchschreitebecken säuberten, und Willy, der am Kneipptauchbecken beim Eingang werkelte.
»Und wer war der Mörder?«, fragte Hubertus und schob sich noch etwas näher an den Mann heran.
»Sind Sie Polizist?« Der Unbekannte betrachtete ihn nun misstrauisch. »Ich mag keine Polizisten.«
»Ich bin Privatdetektiv und ermittle in dem Fall.« Gerne hätte Hubertus seinen Ausweis gezeigt, den Martina in einer privaten Bastelstunde selbst angefertigt und ihm
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