Morgengrauen
Zelt-Musik-Festivals – und zwar Jahr für Jahr. Auch dieses Mal war es nicht anders: Sturzregen! Binnen Sekunden stand das Festivalgelände unter Wasser. Die Menschen flüchteten in die Zelte, gleich zur Bushaltestelle oder in ihre Autos. Pehar jedoch nicht – im Gegenteil. Er zog sein Hemd aus und rief: »Lass uns tanzen, meine seelenverwandte Waage! Lass uns das Element Wasser feiern.« Dann reckte er sein Haupt dem Himmel entgegen und machte gemeinsam mit Elke ein paar Tanzschritte.
Klaus und Hubertus liefen, der Menschenmenge entgegen, auf Pehar und Elke zu, bis sie nahe genug waren, um zu sehen, dass der Verdächtige keine Kratzspuren am Oberkörper hatte. Eindeutig.
»Na gut«, dachte sich Hubertus. Er ist wohl wirklich nicht der Mörder. Dann würde es aber jetzt vorbei sein mit der Party. »Lass meine Frau in Ruhe!«, schrie er also, fuchtelte mit der Krücke herum und humpelte auf den fassungslosen Pehar zu.
Die Rückfahrt verbrachten sie weitgehend schweigend. Noch im Stadtgebiet fluchte Riesle plötzlich lautstark, nachdem er wieder einmal geblitzt worden war. Ab zweiundzwanzig Uhr durfte man die Ökohauptstadt Freiburg nämlich nur im Schneckentempo 30 durchqueren.
Ansonsten kamen die meisten Geräusche vom Regen, der unablässig auf das Dach des Kadetts prasselte.
»Er war während der Morde als Meditationslehrer auf Gomera«, erläuterte die tropfnasse und ziemlich wütende Elke dem ebenso tropfnassen und ziemlich erschöpften Hubertus. »Sogar die Zeitungen haben über ihn berichtet. Er ist kein Mörder! Und du hast mich unglaublich blamiert. Du musst endlich an dir arbeiten, Hubertus Hummel!«
»Wahrscheinlich können wir ihn von der Liste der Verdächtigen streichen«, versuchte Riesle das Thema wieder auf den Fall zu lenken.
»Hast du seine Fingerabdrücke?«, fragte Hubertus.
Elke zog mit einem Taschentuch das trocken gebliebene Faltblatt aus ihrer Handtasche.
»Da!«, machte sie beleidigt. »Er hat mir sogar seine Mailadresse aufgeschrieben. Ihr könnt ihm ja schreiben, wenn ihr ihn als Mörder überführt habt …«
Ob sie sich auch um eine Speichelprobe von Pehar bemüht hatte, wollte Hubertus lieber nicht fragen.
22. AQUASOL
Hummel schwirrte der Kopf. Das mochte zum einen an der Zigarette liegen, die er von einem anderen Kneipenbesucher geschnorrt hatte und die er nun genüsslich in sich hineinsog. Oder vielleicht am Bier, das er wieder mal in ungezählten Halblitergläsern in sich hineinkippte. Doch vermutlich wurde ihm einfach alles zu viel: die Mordfälle, bei denen sie kaum weiterkamen, seine Eifersucht, der Bänderriss, Martinas neuer Freund, ganz zu schweigen von der plötzlichen Schwangerschaft seiner fast noch minderjährigen Tochter.
Und das alles ausgerechnet in den Pfingstferien – der Zeit, in der er sich eigentlich erholen wollte.
Da tat es gerade sehr gut, um kurz nach sieben im »Bistro« zu sitzen und einfach mal nichts zu hören außer dem Stimmengewirr um ihn herum. Einzig die wegen des dichten Zigarettenqualms blinzelnden Augen ließ er etwas umherschweifen. Er beobachtete Felix, einen etwas verschrobenen Musiker, der gerade zwei Tische weiter vor einem großen Glas Weizenbier über einem seiner neuen Arrangements grübelte. Aber er war nicht der einzige alte Bekannte. Zu seinem Unbehagen saß an der Theke eine große, massige Gestalt mit blondem, abstehendem Haar und Brille: Didi Bäuerle starrte in sein Bierglas und schien ebenfalls in Gedanken versunken.
Dann bemerkte er jedoch Hubertus’ Blick.
Schnell drehte Hubertus den Kopf weg, doch es half nichts. Didi erhob sich von seinem Hocker und ging geradewegs auf Hummel zu: »Hör mal, Huby, können wir vielleicht mal reden?«
Doch er hatte die Frage kaum ausformuliert, da ertönte die Kleine Nachtmusik , der Klingelton von Hubertus’ Handy.
»Moment«, sagte Hubertus. Womöglich war Elke schon vom Yoga zurück. Deshalb schnappte er sich seine Krücken und stürmte humpelnd durch die offene Eingangstür hinaus auf die gepflasterte Straße.
»Hubertus Hummel!«, rief er ins Handy.
»Burgbacher am Apparat. Edelbert Burgbacher.«
Sein Künstlerfreund stand gerade auf dem Vorplatz des Freizeitbads »Aquasol« in Rottweil. In der einen Hand hielt er ein Glas Rotwein zur Beruhigung, in der anderen eine Reval ohne Filter und das Handy. Um seine Hüften hatte er ein Handtuch geschwungen und sich, ansonsten splitternackt, eilig auf den Weg nach draußen gemacht, wo er nun zwischen dem Strom der ankommenden
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