Morgenlied - Roman
prachtvolles Haus in Connecticut, zahlreiche Wohnungen an interessanten Orten. Wir gingen auf die besten Schulen, reisten regelmäßig nach Europa und hatten Freunde, die aus ähnlich reichen und bedeutenden Familien stammten. Doch dann hatte mein Vater einen Unfall und wurde blind.«
Einen Moment lang ging sie schweigend weiter, die Hände in die Taschen gesteckt, den Blick starr nach vorne gerichtet. »Er kam damit nicht klar. Eines Tages schloss er sich in der Bibliothek ein. Die Dienstboten versuchten, die Tür aufzubrechen - damals hatten wir noch Dienstboten -, aber da hörten wir schon den Schuss. Ich rannte außen ums Haus zum Fenster, und da sah ich, was er getan hatte. Ich schlug die Scheibe ein und kletterte hinein. Besonders gut kann ich mich daran nicht mehr erinnern. Natürlich war es zu spät, und wir konnten ihm nicht mehr helfen. Meine Mutter war hysterisch, Marissa schrie wie am Spieß, und es war nichts mehr zu machen.«
Gage schwieg, also redete sie weiter.
»Erst hinterher erfuhren wir von den >beträchtlichen finanziellen Verlusten<, wie es hieß, die mein Vater seit dem Unfall hatte hinnehmen müssen. Meine Mutter ging auf ihre eigene Art mit Schock und Trauer um, indem sie nach Europa flog und eine Unmenge Geld ausgab. Innerhalb eines Jahres hatte sie wieder geheiratet, und ihr neuer Mann gab das Geld ebenfalls mit vollen Händen aus. Er überredete sie, ihm einen Teil des Vermögens zu überschreiben, dann verließ er sie.«
Ihre Stimme klang bitter.
»Aber es hätte viel schlimmer kommen können. Wir hätten völlig mittellos dastehen können, stattdessen mussten wir einfach lernen, mit weniger Geld auszukommen und selbst für unseren Lebensunterhalt zu sorgen. Meine Mutter heiratete noch einmal, dieses Mal
einen anständigen, netten und soliden Mann. Soll ich aufhören?«
»Nein.«
»Gut. Ebenso wie ich erbte Marissa, als sie einundzwanzig wurde, ein - nach unseren früheren Standards - bescheidenes Vermögen. Zu diesem Zeitpunkt hatte sie bereits eine Ehe und eine bittere Scheidung hinter sich, das Geld war in null Komma nichts aufgebraucht. Sie modelt ein bisschen, verdient ganz anständig mit Aufnahmen für Zeitschriften und Werbung, aber am liebsten wäre sie einfach nur prominent, und so einen Lebensstil hat sie auch. Deshalb ist sie ziemlich oft pleite und kann nur noch mit ihrem Charme und ihrer Schönheit bezahlen. Bei mir funktioniert das meistens nicht, deshalb geraten wir häufig aneinander.«
»Weiß sie, wo du bist?«
»Nein, zum Glück nicht. Ich habe es ihr nicht erzählt, und das tue ich auch nicht, immerhin ist sie meine Schwester, und auch wenn ich mich über sie aufrege, so will ich doch nicht, dass ihr etwas passiert. Außerdem will ich sie nicht in meiner Nähe haben. Sie ist wie meine Mutter, oder sagen wir mal, wie meine Mutter war, bevor sie in ihrer dritten Ehe zur Ruhe gekommen ist, und ich komme eher auf meinen Vater.«
»Dann war er also klug und sexy?«
Sie lächelte. »Das ist nett, dass du das sagst, nachdem ich dir die Ohren mit meiner Geschichte vollgejammert habe. Ich habe mich schon gefragt, ob ich vielleicht auch wie mein Vater Schicksalsschläge nicht ertragen kann.«
»Doch. Das hast du schon bewiesen. Du hast das Fenster eingeschlagen.«
Sie holte tief Luft und blickte ihn aus ihren dunklen Augen an. »Du hast dir das verdient, weil du mir zugehört hast, und ich habe es verdient, weil ich so klug war, einem Mann meine Geschichte zu erzählen, der mir zuhört.«
Sie packte seine Hemdbrust und stellte sich auf die Zehenspitzen. Dann schlang sie ihm die Arme um den Hals.
Ihre Lippen waren seidig und warm und versprachen mehr. Er atmete ihren Duft tief ein und zog sie an sich. Sie ließ es geschehen. Warum sollte sie sich an einem stillen Frühlingsabend nicht von einem Mann küssen lassen, der genau wusste, wie sie geküsst werden wollte?
Schließlich löste sie sich aber doch von ihm. Ihr war klar, dass ein Mann wie Gage die Herausforderung suchte, und es wäre für sie beide sicher befriedigender, wenn sie es ihm nicht zu leicht machte.
»Das war vielleicht ein bisschen überbezahlt«, sagte sie, »aber du kannst das Wechselgeld behalten.«
Er grinste sie an. »Das hätte ich sowieso gemacht.«
Lachend ergriff sie seine Hand. »Ich finde, der Spaziergang hat uns beiden gutgetan, aber jetzt gehen wir besser zurück.«
Im Wohnzimmer setzte Cybil sich gemütlich hin und berichtete den anderen vom Zwischenfall am
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