Morgenlied - Roman
rollte. Das Wort, das sie schrie, als sie vom Feuer verzehrt wurden, war bestia.
Wieder einmal wachte er in der Dämmerung auf. Das musste aufhören, dachte Gage. Der Morgen war keine Tageszeit, die ihm besonders viel bedeutete, doch jetzt musste er sich wohl oder übel damit auseinandersetzen,
weil sein Unbewusstes ihm diesen kleinen Film geschickt hatte. Zu schade, dass so ein vielversprechender Traum sich so weit von der Klimax entfernt hatte.
Die Symbolik war leicht zu begreifen, dachte er und starrte in Cals Gästezimmer an die Decke.
Er war ein Mann. Er war geil.
Hinzu kam, dass es ihm besser gefiel, wenn er ihr nicht hinterherlaufen musste, sondern sie zu ihm kam. Genau zu diesem Thema hatten sie doch vor gar nicht langer Zeit einen Pakt geschlossen. Wie hatte sie es noch einmal formuliert? Du versuchst nicht, mich zu verführen, und ich tue nicht so, als ob ich verführt würde.
Bei der Erinnerung daran musste er lächeln. Er musste nur noch einen Weg finden, sie den ersten Schritt machen zu lassen, damit sie glaubte, es sei ihre Idee gewesen.
Andererseits hatte der Traum natürlich ein schlimmes Ende genommen. Entweder musste er das seiner eigenen zynischen, pessimistischen Natur zuschreiben, oder aber es war ein böses Omen. Vielleicht auch eine Warnung. Wenn er sich mit ihr einlassen würde - und im Traum hatte es sich nicht nur um Sex, sondern um eine echte Beziehung gehandelt -, dann mussten sie beide den Preis dafür bezahlen. Blut und Feuer, dachte er, wie üblich. Und es war nicht der Name ihres Geliebten gewesen, den sie gerufen hatte, als Leidenschaft und Feuer sie verzehrt hatten, sondern bestia.
Lateinisch für die Bestie. Eine tote Sprache, die tote Götter und Hüter verwendeten.
Einfach ausgedrückt, würde der Sex sie ablenken,
und der große, böse Bastard konnte zuschlagen, wenn sie wehrlos waren. Das bedeutete für ihn, dass er besser die Finger von Cybil Kinski ließ.
Er stand auf. Er würde sich den Traum und die Bedürfnisse, die er geweckt hatte, unter der Dusche abspülen. Er konnte seine Triebe sehr wohl beherrschen. Wahrscheinlich brauchte er einfach nur ein Spielchen und Sex. Ein kurzer Trip nach Atlantic City konnte bei beiden Bedürfnissen Abhilfe schaffen, ohne dass es irgendwelche Komplikationen gab.
Er und Cybil sollten die sexuelle Spannung zwischen sich als Energiequelle benutzen. Und falls sie gewinnen, falls sie überleben würden, dann würde er schon Mittel und Wege finden, um sie nackt zu sehen. Dann würde er feststellen können, ob ihre Haut tatsächlich so weich war, wie sie aussah, ihr Körper so geschmeidig, ihr...
Diesen Gedanken sollte er besser ganz schnell wieder verdrängen.
Er trocknete sich ab, entschied sich gegen das Rasieren (wozu auch?) und zog Jeans und ein schwarzes T-Shirt an. Als er zur Treppe ging, hörte er Stimmengemurmel und ein kurzes, sexy Kichern hinter der verschlossenen Schlafzimmertür. Die Turteltauben waren also auch schon wach. Hoffentlich blieben sie noch lange genug im Bett, damit er in Ruhe seinen Kaffee trinken konnte.
In der Küche setzte er die Kaffeemaschine in Gang, und während der Kaffee durchlief, ging er zum Briefkasten. Der Abhang vor Cals Haus war ein einziges Blütenmeer. Die Azaleen - einer der wenigen Ziersträucher,
die Gage kannte - standen in voller Blüte. Ein kleiner Baum mit hängenden Zweigen war über und über mit rosa Blüten bedeckt. Hinter all dieser blühenden Pracht stand dunkel und schweigend der Wald.
Vögel zwitscherten, der Bach murmelte, und unter Gages Füßen knirschte der Kies. Manche Blumen dufteten, und der Wind trug den Duft mit sich.
Beruhigend, dachte er, die Geräusche, die Düfte, der Anblick. Ein Mann wie Cal war hier ganz bestimmt zufrieden. Ab und zu genoss er es ja selbst auch, dachte Gage, als er die Morgenzeitung aus dem blauen Briefkasten zog. Er brauchte von Zeit zu Zeit auch das Zusammensein mit Cal und Fox. Aber wenn er zu lange hier war, wurde er unruhig, dann brauchte er Neonlicht, Verkehrslärm und Menschenmengen. Seine Energie zog er aus der Anonymität eines Kasinos oder einer Stadt.
Wenn sie den Dämon getötet und überlebt hatten, dann würde er sich erst einmal für ein paar Wochen aus dem Staub machen. Im September war Cals Hochzeit, dann musste er wieder zurückkommen, aber in der Zwischenzeit wartete die große Welt auf ihn. Vielleicht würde er dieses Mal nach Amsterdam oder Luxemburg fliegen.
Oder nach Paris, zusammen mit Cybil. Romantik, Sex,
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