Morgenlied - Roman
immer Kerzen und Blumen, dafür sorgten schon die Frauen.
Im Vergleich dazu war die Wohnung hier die reinste Müllhalde. Ein Mädchen konnte er hierhin nicht mitbringen, aber es war schon okay. Die Wände müssten mal wieder gestrichen werden. Wenn es im Herbst kühler wurde, konnte er das mit seinem Vater vielleicht erledigen.
Vielleicht konnten sie ja auch einen neuen Fernseher kaufen. Im Moment hätten sie jedenfalls das Geld dazu, weil sie beide verdienten. Er sparte zwar für neue Kopfhörer, aber einen Teil des Geldes konnte er sicherlich beisteuern. Die Schule fing erst in ein paar Wochen wieder an, und bis dahin konnte er noch einiges verdienen. Ein neuer Fernseher wäre gut.
Er räumte sein Glas weg und schloss den Schrank. Da hörte er die Schritte seines Vaters auf der Treppe. Und er wusste es.
Aller Optimismus verließ ihn, und sein Magen ballte sich zu einem harten Kloß zusammen. Blöd, dachte er, es war blöd von ihm gewesen zu glauben, dass der alte Mann nüchtern bleiben würde. Blöd zu glauben, dass aus diesem Rattennest jemals eine nette Wohnung werden könnte.
Er wandte sich zu seinem Zimmer, blieb dann aber stehen. Ach, zum Teufel. Er würde sich anhören, was der Scheißkerl zu seiner Verteidigung zu sagen hatte.
Also stand er mitten im Zimmer, als sein Vater die Tür aufstieß.
Schwankend griff Bill Turner nach dem Türrahmen. Sein Gesicht war rot von der Anstrengung, von der Hitze, vom Alkohol. Er stank aus allen Poren nach Whiskey. Sein T-Shirt war vorne dunkel von Schweiß, und der Blick, mit dem er Gage musterte, war gemein.
»Was glotzt du mich so an?«
»Du bist betrunken.«
»Die zwei Bier mit ein paar Kumpels machen mich noch lange nicht betrunken.«
»Ach, dann habe ich mich geirrt. Du bist ein betrunkener Lügner.«
»Pass bloß auf, was du sagst, Junge«, zischte sein Vater.
»Ich hätte wissen müssen, dass du es nicht schaffst.« Und dabei war er doch fünf Monate lang trocken geblieben, und Gage hatte Hoffnung geschöpft.
Diese Enttäuschung, dieser Verrat schmerzte mehr als jeder Hieb mit dem Gürtel.
»Das geht dich verdammt noch mal gar nichts an«, brüllte Bill. »Das ist mein Haus, und unter meinem Dach sagst du mir nicht, was ich zu tun und zu lassen habe.«
»Das ist Jim Hawkins’ Haus, und ich bezahle meinen Anteil Miete ebenso wie du. Hast du schon wieder deinen Lohn versoffen?«
»Ich antworte dir doch nicht. Halt den Mund oder...«
»Was?«, forderte Gage ihn heraus. »Du bist ja so betrunken, dass du kaum stehen kannst. Was willst du denn tun? Aber das ist mir sowieso scheißegal«, sagte er angeekelt. Er wandte sich zu seinem Zimmer. »Ich wünschte, du würdest dich zu Tode trinken, damit endlich alles zu Ende ist.«
Bill war zwar betrunken, aber er war schnell. Er schoss quer durch das Zimmer auf Gage zu und drückte ihn an die Wand. »Du taugst nichts, du hast noch nie etwas getaugt. Du wärst besser nie geboren worden.«
»Dann sind wir ja schon zwei. Und jetzt lass mich los.«
Sein Vater verpasste ihm zwei schallende Ohrfeigen. »Es wird Zeit, dass du endlich mal Respekt lernst.«
Gage erinnerte sich an seinen ersten Schlag. Er erinnerte sich daran, wie er seinem Vater seine Faust mitten ins Gesicht gestoßen hatte, und an den Schock in den Augen des alten Mannes. Irgendetwas fiel um - die Stehlampe -, und jemand fluchte heftig. War er das gewesen?
Seine nächste klare Erinnerung war, dass er über seinem Vater stand und der alte Mann blutend und mit zerschlagenem Gesicht am Boden lag. Seine Fäuste schmerzten von den Schlägen und dem Heilungsprozess der blutigen Knöchel. Er atmete keuchend und war schweißüberströmt.
Wie lange hatte er mit den Fäusten auf den alten Mann eingeprügelt? Er sah alles wie durch einen roten Nebel. Und dahinter war alles kalt.
»Wenn du mich auch nur noch einmal in deinem Leben anfasst, dann bringe ich dich um.« Er hockte sich hin, damit sein Vater ihn auch hören konnte. »Ich schwöre es. In drei Jahren bin ich weg. Meinetwegen kannst du dich in der Zwischenzeit zu Tode saufen, das ist mir völlig gleichgültig. Ich werde meinen Anteil an der Miete direkt an Mr Hawkins bezahlen. Du
bekommst keinen Cent davon. Ich bezahle mein Essen, meine Kleider. Von dir will ich nichts mehr. Aber wie betrunken du auch sein magst, das solltest du nicht vergessen, du Scheißkerl: Schlag mich noch einmal, und du bist ein toter Mann.«
Er erhob sich, ging in sein Zimmer und schlug die Tür hinter sich zu. Morgen
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