Morgenlied - Roman
hätte wissen müssen, dass sie absolut pünktlich war. Nicht zu spät, nicht zu früh, sondern genau auf den Punkt. Cybil war eben eine präzise Frau. Sie trug ein T-Shirt in der Farbe von reifen, saftigen Pfirsichen zu einer dunkelbraunen Hose, die sie bis über die Knöchel hochgekrempelt hatte, und Sandalen mit dünnen Riemchen, in denen ihre schmalen Füße mit den lackierten Nägeln gut zur Geltung kamen. Ihre lockigen Haare hatte sie im Nacken zusammengebunden, so dass er die winzigen Ringe in ihren Ohrläppchen sehen konnte.
Sie hatte eine braune Handtasche in der Größe eines Bullterriers dabei.
»Ich habe gehört, du hattest Besuch. Du musst mir unbedingt alles darüber erzählen, damit nichts verloren geht.«
Sie kam sofort zum Geschäft, dachte er. »Gut.« Er wandte sich zur Küche. Wenn er alles noch einmal erzählen sollte, brauchte er unbedingt einen Kaffee.
»Kann ich etwas Kaltes zu trinken haben?«
»Bedien dich.«
Er beobachtete sie, als sie den Grapefruitsaft und das Ginger Ale aus dem Kühlschrank nahm. »Ich bin fast ein bisschen beleidigt, weil sie mit mir noch nicht geredet hat«, sagte Cybil und schenkte sich Saft ein. »Aber ich versuche mal, großzügig darüber hinwegzusehen.« Sie hob ihr Glas und warf ihm einen fragenden Blick zu. »Möchtest du auch einen Saft?«
»Auf gar keinen Fall.«
»Wenn ich den ganzen Tag Kaffee trinken würde, so wie du, würde ich unter der Decke hängen.« Sie blickte auf die Karten, die noch auf der Theke lagen. »Ich habe dich bei deinem Spiel unterbrochen.«
»Nein, das ist nur ein Zeitvertreib.«
»Hmm.« Sie studierte die Legung. »Man nennt es auch Réussite - Erfolg - in Frankreich. Manche Historiker glauben, dass es von dort stammt. In England sagt man Patience, Geduld, dazu, und Geduld braucht man wahrscheinlich auch, um es zu spielen. Die interessanteste Theorie, die ich gehört habe, besagt, dass man damit in die Zukunft schauen kann. Darf ich?«, fragte sie und tippte auf die Karten. Gage zuckte mit den Schultern.
Sie drehte eine Karte um und setzte das Spiel fort. »In den letzten Jahren wird Solitär häufig am Computer gespielt. Spielst du auch online?«
»Selten.«
»Online Poker?«
»Nie. Ich sitze meinen Gegnern gerne gegenüber. Wenn sie anonym sind, macht das Gewinnen keinen Spaß.«
»Ich habe es einmal ausprobiert. Ich probiere das meiste wenigstens einmal aus.«
Das meiste also. Interessant. »Wie fandest du es?«
»Nicht übel. Aber du hast schon recht, es hat nicht so viel Spaß gemacht wie ein richtiges Spiel. Na ja, wo sollen wir uns hinsetzen, wenn du mir von der Begegnung erzählst?« Sie stellte ihr Glas ab und zog ein Notizbuch aus ihrer riesigen Tasche. »Am besten erzählst du mir zuerst detailliert von dem Besuch heute früh, dann...«
»Ich habe von dir geträumt.«
Sie legte den Kopf ein wenig schräg. »Ach ja?«
»Es war ein ziemlich erotischer Traum, du kannst dir ja überlegen, ob du die anderen daran teilhaben lässt oder ihn lieber für dich behältst.«
»Dazu muss ich ihn zuerst einmal hören.« Sie lächelte. »In allen Einzelheiten.«
»Du bist nackt in mein Schlafzimmer gekommen.«
Sie klappte ihr Notizbuch auf und begann mitzuschreiben. »Das war ungehörig von mir.«
»Der Mond schien und tauchte das Zimmer in ein blaues Licht. Sehr sexy, wie in einem Schwarz-Weiß-Film. Es hatte nichts vom ersten Mal an sich, es war irgendwie vertraut, als ich dich berührte, so als hätten wir es schon öfter getan.«
»Haben wir gesprochen?«
»Zu dem Zeitpunkt noch nicht.« In ihren Augen stand amüsiertes Interesse. Sie erweckte nicht den Eindruck, als wäre es ihr peinlich. »Ich wusste, wie du schmeckst, kannte die Laute, die du von dir geben würdest, wenn ich dich berührte. Ich wusste, wo und wie ich dich anfassen musste. Als ich in dir war und wir beide miteinander... nun ja, verbunden waren, begann der Raum zu bluten und zu brennen.« Jetzt war ihr Interesse wirklich geweckt. »Feuer und Blut überrollten uns, genau in dem Moment, als es uns verzehrte und du kamst, sagtest du bestia.«
»Sex und Tod. Das klingt eher nach einem erotischen Traum als nach einer Vision.«
»Vermutlich. Aber ich dachte, ich muss es dir auf jeden Fall erzählen.« Er tippte mit dem Finger auf ihr Notizbuch. »Für deine Aufzeichnungen.«
»Es ist schwer, unter den Umständen nicht an Sex und Tod zu denken. Aber...«
»Hast du ein Tattoo?« Sie kniff die Augen zusammen. »Etwa so groß«, fuhr er fort und
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