Morgenlied - Roman
schauen.«
»Natürlich kannst du das. Du brauchst bloß ein bisschen Übung, Konzentration und Aufmerksamkeit. Und das bereitet dir keine Schwierigkeiten, sonst könntest du nicht so erfolgreich Kartenspielen. Problematischer ist allerdings, wenn wir beide die Fähigkeit gleichzeitig aufrufen und sie auf ein einziges zukünftiges Ereignis richten müssen.«
Erneut griff sie in ihre voluminöse Handtasche und zog ein Päckchen Tarotkarten heraus.
»Soll das ein Scherz sein?«
»Werkzeuge«, erwiderte sie und begann die Karten zu mischen. »Ich habe auch Runen, verschiedene Arten von Kristallkugeln und einen VVahrsage-Spiegel. Ich habe mich einmal sehr ernsthaft mit Hexerei beschäftigt, weil ich wissen wollte, warum ich in die Zukunft sehen kann. Aber wie bei jeder Religion gibt es viel zu viele Regeln, und nach einer Weile machten sie mich nervös, deshalb akzeptierte ich meine Gabe einfach und widmete mich anderen Dingen.«
»Wann hast du es das erste Mal bemerkt?«
»Dass ich wahrsagen kann? Ich weiß nicht genau. Es kam nicht wie bei dir als blendender Lichtblitz. Ich hatte immer schon lebhafte Träume, die ich früher, als ich klein war, meinen Eltern erzählte. Manchmal weinte ich auch, weil mir die Träume Angst machten. Meine Großmutter väterlicherseits, die von Zigeunern abstammte, sagte mir, ich hätte das dritte Auge. Ich bemühte mich sehr, Kontrolle darüber zu bekommen, aber die Träume hörten nicht auf. Manchmal waren es gute, manchmal schlimme Träume. Oft träumte ich von Feuer, dass ich hindurchlaufen, darin sterben, es verursachen würde.
Sie legte die Karten aus. »Ich glaube, von dir habe ich geträumt, lange bevor ich dich kennen lernte«, sagte sie.
»Du glaubst?«
»Ich habe nie dein Gesicht gesehen, oder zumindest habe ich es nicht mehr gewusst, wenn ich aufwachte. Aber in den Träumen wusste ich, dass jemand auf mich wartet. Ein Liebhaber. Mit etwa vierzehn hatte ich meinen
ersten Orgasmus während eines solchen Traums. Ich erwachte, erregt, befriedigt, oft aber auch zitternd vor Angst, weil es manchmal kein menschlicher Liebhaber war, der auf mich wartete. Auch dann sah ich sein Gesicht nicht, selbst nicht, wenn er mich bei lebendigem Leib verbrannte.« Sie blickte Gage an. »Also lernte ich alles, was es zu wissen gab, lernte, wie ich durch Yoga, Meditation, Kräuter und Trancezustände meinen Geist und meinen Körper zentrieren konnte - alles nur, um die Bestie aus meinen Träumen fernzuhalten. Meistens funktioniert es. Oder es hat funktioniert.«
»Ist es hier in Hollow schwieriger für dich, in deiner Mitte zu bleiben?«
»Ja.«
Gage setzte sich und deutete auf die Karten. »Und was hält die Zukunft bereit?«
»Das hier ist nur ein kleines Frage-und-Antwort-Spiel. Aber was deine Frage angeht...« Sie sammelte die Karten wieder ein und mischte sie erneut. »Lass uns mal sehen.«
Sie legte den Stapel auf den Tisch, ließ ihn abheben und fächerte die Karten dann auf. »Wir wollen es zuerst jeder mit einer Karte probieren. Zieh eine.«
Er zog eine Karte aus dem Fächer und deckte sie auf, als sie nickte. Das Paar auf der Karte war eng umschlungen, und ihre dunklen Haare wanden sich um ihre nackten Leiber.
»Die Liebenden«, verkündete Cybil. »Das zeigt, wo du in Gedanken bist.«
»Das sind deine Karten, Süße.«
»Mmmhh.« Sie zog ebenfalls eine. »Das Rad des Schicksals - das entspricht dir sicher mehr. Es symbolisiert Wandel, Wendung zum Guten wie zum Schlechten. Zieh noch eine.«
Er drehte den Magier um.
»Das Große Arkana, drei mal drei.« Sie runzelte die Stirn. »Eigentlich ist es eine meiner Lieblingskarten, nicht nur wegen der Zeichnung, sondern weil sie für Fantasie, Kreativität und natürlich Magie steht. In diesem Fall könnten wir sagen, dass sie für Giles Dent, deinen Vorfahren, steht.« Sie zog eine weitere Karte heraus und drehte sie langsam um. »Und mein Vorfahre. Der Teufel. Gier, Zerstörung, Besessenheit, Tyrannei. Zieh noch eine.«
Er zog die Hohepriesterin. Cybil den Gehängten.
»Unsere mütterlichen Vorfahren, obwohl es bei mir eine männliche Figur ist. Verständnis und Weisheit bei deiner, Märtyrertum bei meiner. Und alle aus dem Großen Arkana. Noch eine.«
Er zog den Turm und sie den Tod.
»Wandel, mögliche Katastrophen, aber mit den anderen Karten, die du gezogen hast, die Möglichkeit der Veränderung zum Positiven, zum Wiederaufbau. Meine zeigt offensichtlich ein Ende und ist zusammen mit meinen anderen Karten auch nicht
Weitere Kostenlose Bücher