Morgenroetes Krieger
Handhabung ihres Geschichtensammlers. Das Licht der Sonne durc h flutete den Kontrollraum, verschlang alle Farben und rückte alles in ein Bild scharfkonturierter Schwarzwei ß kontraste. Und mittendrin war eine kleine Hexe mit brennend weißer Haut und kosmisch schwarzen Haaren, eine silbrig-glitzernde Miniatur-Galaxis in der Hand, den Körper im Winkel von genau neunzig Grad zur Lich t quelle gewandt, die Augen konzentriert auf einen Punkt gerichtet, den Mund leicht geöffnet. Sie vollzog eine la n ge Zeit mit ihrer freien Hand die Eingabefiguren, bewe g te dabei gelegentlich stumm die Lippen, als würde sie Zaubersprüche murmeln. Han konnte an ihren Lippen nichts ablesen. Dann spannte sie ihr Gerät. Er nahm eine Bewegung in dessen Innerem wahr. Etwas sprang hoch, erzitterte und kam in einer neuen Konfiguration zur R u he. Usteyin hustete, löschte das Ganze schüttelnd mit einer kurzen Handbewegung und schaute schnell beise i te. Han verdunkelte den Bildschirm, und Usteyin, einem Schlafwandler gleich, klappte den Geschichtensammler sorgfältig zusammen und verstaute ihn an seinem Platz in der kleinen Tasche. Sie stand da und sagte kein Wort. Sie sah benommen aus. Han berührte sie. Keine Reaktion. Er nahm sie mit beiden Händen und schüttelte sie heftig.
„Usteyin, bist du in Ordnung?“
Die Stimme schien sie zurückzubringen. Sie blickte zu ihm hoch und nickte. „Ja, aber beinahe wäre ich es nicht. Ich mußte mich selbst herausbringen. Ich habe ihn heute schon zu oft benutzt; habe versucht zu viel und zu weit zu sehen. Nicht noch einmal.“
„Was hast du gesehen? Was ist mit dem hellen Ding?“
Sie zögerte einen Moment lang, bevor sie antwortete, so als wollte sie versuchen, die genaue Geschmacksnote ihrer Erfahrung nachzukosten. Dann begann sie: „Es war vor langer, sehr langer Zeit. Es herrschte Dunkelheit. Sterne. Weit weg. Leere, Einsamkeit – das Nichts fühlte eine Spannung. Es gab da etwas, aber es war schwach, verstreut … überall. Dann kam es zusammen; es sah aus wie Rauch, kochte, bewegte sich … nach oben … wie Rauch, dann nach innen … auf einen Punkt zu. Knoten bildeten sich, Dinge, die glühten, die aufflammten, Feuer fingen. Viele von ihnen. Dann wurde es klar, die Lichter wurden heller, starkes Feuer … dann entfernten sie sich voneinander. Ich sah dieses hier. Es war größer als die anderen, und es hatte kleine, kalte Kugeln um sich he r um, die nicht glühten. Es dauerte länger …, aber dann wurde es auch ruhig. Ich kam ihm näher, das Maß der Allbewegung, die du Zeit nennst, wurde schneller und immer schneller … und dann langsamer. Ich verstand, daß viele-viele Jahre vergangen waren. Das Ding wuchs langsam, es war außen fest, aber innen war es krank, schwerkrank, es zitterte … , wie wenn man Steine aufei n anderschichtet, um zu sehen, wie hoch der Stapel werden kann. Dann wurde das Ding hell, die Zeit sehr langsam – so konnte ich sehen …, aber selbst dann noch war es zu schnell. Es wurde größer, heller – ungefähr so …!“ Sie formte mit ihren Händen eine Kugel, dann öffnete sie sie, indem sie ihre Finger spreizte und die Hände auseina n derriß. „Nur ein kleines Ding blieb übrig, aber es war sehr stark. Ich konnte es fühlen, als es mich heranzog.“
„Wo sind wir in dieser Geschichte?“ fragte Hatha.
„Nahe dem Ende. Ich habe uns gesehen – wir waren schon alle fort zu diesem Zeitpunkt. Du willst die Zeit wissen? Wie lange noch? Geh zu dem Land, wo wir vo r her waren. Die Sonne wird fünfmal den vollen Zyklus der zwei Winter machen – nicht mehr. Auch sie werden es sehen. Es wird ein Morgen sein, Spätfrühling des Nordwinters. Früh am Morgen. Es werden keine Wolken am Himmel sein, sie werden es sehen … und …“ Sie brach ab. „Was bedeutet das alles?“
Liszendir sagte: „Du siehst und weißt nicht, was?“
„Ich sehe viele Dinge, die ich nicht kenne. Das ist die Weise, wie man im Geschichtensammler gefangen wird. Man hört nicht auf zu sagen: ‚Was ist dies und dies und dies?’ Vorhin sah ich andere – ähnlich dem hellen Ding, sie waren ähnlich – und auch wieder nicht ähnlich. Wie sie waren, was sie werden, was sie bedeuten, ihren Sinn …“ Sie versank, wurde leiser, still, starrte mit glasigen A u gen in einen inneren Nullpunkt.
Han nahm sie erneut und schüttelte sie. Zuerst schien es keine Wirkung zu haben, aber beim zweiten oder dri t ten Mal erwachte sie aus ihrer Trance und kehrte in die Wirklichkeit zurück.
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