Morgenroetes Krieger
mit wohlwollender Stimme: „Aber du hast ein gutes Wesen, bist ohne Arg und Schuld. Du glaubst, daß dein Leben nicht leidenschaf t lich genug war, daß du noch nicht die große Liebe g e funden hast. Ja, ich habe es gesehen. Alles, was längst zurückliegt, dich und auch Han. Ich weiß es. Wir tun das nicht oft. Es ist nicht gut, sein eigenes Leben zu betrac h ten. Aber ich mußte es wissen.“
Liszendir fragte mit zaghafter Stimme: „Hast du dies alles vorausgesehen?“
„Nein. Wie hätte ich es wissen können? Wir schauen nicht in unsere Zukunft – weil wir es nicht wissen wo l len. Es ist die einzige Geschichte, die wir real haben. Man muß die Anfänge kennen. Aber dann kam er, kaufte mich, machte mich zu seinem Eigentum. Es war so sel t sam und fremdartig, daß ich schauen und wissen mußte. Ich habe es lange Zeit nicht gewagt. Aber gestern tat ich es. Dein Leben ist von meinem so verschieden. Für mich ist keiner von uns das eigentliche Volk; wir alle sind nur armselige Kreaturen, die das vollziehen, was vorb e stimmt ist, die in dem Strom mitschwimmen; du aber, du hast etwas Endgültiges. Ich sehe, daß ich mich geirrt h a be – ebenso wie du. Alle Lebewesen verschränken sich ineinander – es gibt nichts Endgültiges. Wir alle stehen miteinander in Beziehung. Du hast viele Liebhaber g e habt, viele Formen kennengelernt, dein Körper ist für dich wie ein wertvolles Instrument. Du wirst dich mit zwei weiteren verbinden, in einem seltsamen Ritual, das ich nicht verstehe. Ich aber habe nur einen. Ich werde ein fremdartiges Leben führen – ich verstehe es jetzt weniger als das deinige –, aber es wird reicher sein, als es sich die Zlats je vorzustellen vermochten. Vielleicht nicht so phantasiereich, aber schöner. Es ist viel Friede dort, ich werde hineinsinken und glauben zu fliegen. Du wirst dich nicht ändern – aber ich. All das steht fest, felsenfest, wie die alten Geschichten der Zlats. Aber du brauchst keine Angst vor mir zu haben, Liszendir Srith-Karen, Abkömmling vieler-vieler Karen-Generationen. Du hast ihn für mich bereitgemacht – das ist ein Geschenk, für das ich auf immer in deiner Schuld stehe.“
12.
Alle Religionen wurzeln in diskreditierten Wissenscha f ten.
Holden Czepelewski, Tagebücher
Die Wahrheit tritt uns in den Mythen entgegen, Fakten gehören ins Reich der bloßen Meinung. Je mehr Fakten aneinandergereiht werden, um so irriger und ungesiche r ter wird der Tatbestand. Auf der Ebene der reinen Fakten gibt es nur noch das Chaos. Ja, sicherlich, Fakten sind real, man sollte sie respektieren, aber man muß sich auch vor ihnen in acht nehmen, denn es ist die fließende Bewegung, die den Tänzer anmutig erscheinen läßt.
Brunsimber Frazhen
Han wandte sich ab und programmierte den Kurs für das Rendezvous mit dem großen Schiff. Als er sich wieder umdrehte, lächelte die eine liebevoll, während die andere mit unbeweglichem Gesichtsausdruck ins Leere blickte. Er hatte das Bedürfnis, die Starrheit der Situation zu durchbrechen, irgendwie Bewegung und Leben hinei n zubringen – wenigstens eine Andeutung oder den Schein einer Bewegung –, doch er fühlte sich dazu außerstande; er spürte, daß der kleinste Schritt von seiner Seite den Sturm im Wasserglas auslösen könnte, ein Sturm, der alles zu Boden gefegt hätte.
Hatha brach als erster das Schweigen, indem er fragte: „Wenn ich recht gehört und gesehen habe, so kann sie oder irgendein anderer Zlat, ja selbst ein beliebig anderer Mensch, der ein wenig Übung hat, mit diesem Drahtg e flecht überall hinschauen?“ Er stockte, suchte nach einem Wort, das gar nicht existierte. „Überallhin? Wie sind sie aber an diese Dinger gekommen?“
Usteyin antwortete ihm. „Es ist genauso wie du sagst : wann und wo auch immer. Aber dort, wo wir waren, auf der Ebene, und als das, was wir da waren, kannte ich nicht – viele Dinge, und diejenigen, die ich dennoch von der Außenwelt kannte, um die kümmerte ich mich nicht. Wenn ich dich nicht kenne, weil du an einem weit entl e genen Ort wohnst, so hätte ich auch keinen Grund, mir diesen Ort anzuschauen, zu sehen, wer du bist und wie du lebst. Nein. Dafür benutzen wir sie nicht; wir benutzen sie für unsere eigenen Geschichten, um uns stolz zu machen, um uns eine Identität zu geben. Wir machen sie zu uns e rem eigenen Selbst – von Anfang an. Das ist eine der G e schichten: wie die Zlats ihre Geschichtensammler machen. Es war unsere Spezialität … in
Weitere Kostenlose Bücher